Automatische Bestseller-Erkennung, die Auswahl von Manuskripten nach Algorithmen: Künstliche Intelligenz, wie sie hinter der Software LiSA des Start-ups QualiFiction steckt, wird unsere Arbeit als Lektor*innen verändern – aber kann sie sie uns abnehmen? Und kann die Software tatsächlich halten, was sie verspricht?
Seit ein paar Monaten sorgt eine neue Software für Gesprächsstoff: LiSA von der Hamburger Firma QualiFiction. LiSA ist die Abkürzung für Literatur-Screening und Analyse. Die Software bietet, vereinfacht gesprochen, zwei Funktionen: die Analyse eines (belletristischen) Manuskripts anhand von Thema, Sentiment und Stil sowie die Berechnung des „Bestseller-Scores“: Innerhalb von 30 Sekunden – so das Versprechen – wertet die Software ein Manuskript aus, listet die angesprochenen Themen auf, zeigt, ob es eher heiter oder düster geschrieben ist, ob die Sprache eher komplex gehalten ist oder ob es sich in stilistischer Hinsicht um einen einfach gestrickten Text handelt. Der Bestseller-Score gibt in Prozent das Bestsellerpotenzial des Manuskripts an.
Analyse von Erfolgskriterien
Um dieses Bestsellerpotenzial zu errechnen, wurde die Software mit rund 10.000 Manuskripten gefüttert – sowohl Bestseller als auch nicht so erfolgreiche Texte. Leider ist nicht bekannt, ob es sich dabei ausschließlich um Romane handelt oder ob auch Sachbücher analysiert wurden. Anhand der eingespeisten Texte leitet das Programm Erfolgskriterien ab. Welche das im Einzelnen seien, gebe die Software nicht preis, meint Ralf Winkler, einer der Firmengründer. Was dann aber doch bekannt ist – möglichst eine Grundspannung halten, die Vermeidung von Extremen, die Bedienung der Erwartungen des Zielpublikums –, ist zum einen nicht überraschend und erinnert zum anderen an die Erkenntnisse von Jodie Archer und Matthew L. Jockers, veröffentlicht in deren Buch „Der Bestseller-Code“.
Gesa Schöning, die Gründerin von QualiFiction, kommt aus der Buchbranche: Ihre Eltern führten einen Buchladen, sie selbst hat Kulturwissenschaft studiert und sich mit Bestsellerforschung beschäftigt. Ralf Winkler ist Mathematiker und hat zuvor für den Onlinehändler Zalando Programme entwickelt, um Muster in den Bestellungen der Kunden zu erkennen. Dieses Verfahren der Mustererkennung wendet LiSA nun auf Bücher an. In einem Artikel in der Frankfurter Rundschau erklärt Winkler: Der Unterschied sei gar nicht mal so groß.
Ziel von LiSA ist, so Gesa Schöning, einerseits Verlagslektor*innen bei der Prüfung unaufgefordert eingesandter Manuskripte zu entlasten, andererseits Autor*innen eine objektivere Einschätzung ihres Texts hinsichtlich dessen Chancen auf dem Markt zu ermöglichen.
Entlastung der Verlage?
Erst mal zum Ersteren, dem Einsatz in Verlagen. Immer wieder werden die Beispiele von Herman Melville und Joanne K. Rowling herangezogen, die erst x Absagen für ihre Manuskripte kassierten, bevor endlich ein Verlag zusagte. Was dabei aber gern vergessen wird: „Moby Dick“ war zu Lebzeiten Melvilles nicht erfolgreich, es wurden gerade mal 3.000 Exemplare in den vierzig Jahren zwischen Erscheinen des Buches und dem Tod des Schriftstellers verkauft. Unbestritten ist aber natürlich der Erfolg der Harry-Potter-Reihe von Rowling.
LiSA, so Schöning, soll Lektor*innen im Verlag die Sichtung der unaufgefordert eingegangenen Manuskripte erleichtern – in Deutschland sind das pro Jahr angeblich insgesamt rund vier Millionen. So viel kann gar nicht gesichtet und ausgewertet werden. Unter den eingesandten Texten ist vieles, das für eine Veröffentlichung überhaupt nicht geeignet ist. Damit aber kein interessantes Manuskript durchs Raster fällt, soll LiSA nun einspringen und eine Vorauswahl treffen. Zudem macht das Programm – bei einem ausreichend hohen Bestseller-Score – Vorschläge für die Höhe der Erstauflage.
Ist das tatsächlich eine Arbeitserleichterung? Vermutlich schon – aber für wen? Eine Prüfung der Manuskripte durch LiSA bietet sich für (Belletristik-)Verlage an, die in einem sehr engen thematischen Bereich aktiv sind, also eher Genre als Literatur im engeren Sinne veröffentlichen. Hat sich ein Verlag auf Science Fiction spezialisiert, fällt es so sicherlich leichter, Manuskripte herauszufiltern, die nicht ins Genre passen. Die Frage bleibt aber, ob diese nicht sowieso durch ein kurzes Prüfen durch Menschen aussortiert werden könnten.
Bestseller von gestern als Datenbasis für morgen?
Ob mit der Vorauswahl durch Algorithmen aber der Gefahr vorgebeugt wird, gute beziehungsweise ökonomisch erfolgreiche Manuskripte zu übersehen, bleibt meiner Einschätzung nach fraglich. Der Erfolg eines Buches hängt von vielen unterschiedlichen Dingen ab – neben dem Werbeaufwand, den ein Verlag an den hoffentlich richtigen Stellen betreibt, spielen zum Beispiel schwer greif- und berechenbare Dinge wie Zeitgeist und aktuell relevante Themen eine Rolle. Wäre „Harry Potter“ in einem anderen Verlag genauso erfolgreich gewesen? Hätte sich „50 Shades of Grey“ zwei Jahre früher oder später ähnlich gut verkauft? Man weiß es nicht.
Kann eine Software, die mit Texten von gestern gefüttert ist, erkennen, was morgen erfolgreich sein wird? Auch wenn – wie Schöning von QualiFiction erklärt – ständig neue Texte eingespeist werden, bleibt es dabei, dass es immer die Bestseller von gestern sind, die die Software auswertet. Unbekannt ist leider, ob es sich dabei ausschließlich um deutschsprachige Originalausgaben handelt oder ob sich auch Übersetzungen darunter befinden.
Gefahr: viele Me-too-Produkte
Zudem: Wie viele verschiedene Romanreihen mit zaubernden Internatsschülern haben sich in den letzten Jahren erfolgreich verkauft? Sprich: Orientiert man sich an den Erfolgstiteln der Vergangenheit, kommen viele Me-too-Produkte zustande, die vielleicht einen ganz ordentlichen Absatz haben, aber doch keine Bestseller werden.
Die Gefahr besteht, dass durch eine Manuskriptauswahl via Algorithmen immer mehr desselben auf den Markt gebracht wird. Dem widersprechen Schöning und Winkler natürlich – was sollen sie auch sonst tun? Ihr Anliegen sei Qualität und Vielfalt. Was davon zu halten ist, sieht man in einem NDR-Fernsehbeitrag zur Software: Das Manuskript eines Autors wird analysiert mit dem Ergebnis, dass sein Buch genau das trifft, was seine Zielgruppe erwartet. Zugegeben, das verspricht einen gewissen ökonomischen Erfolg – bleibt aber innerhalb eines festgelegten Rahmens. Mit Überraschungen muss das Lesepublikum nicht rechnen, sondern alles ist wie bei anderen Titeln des Genres, sprich: immer mehr desselben.
Keine eigene Stimme, kein eigener Stil
Für Autor*innen liegt genau darin eine Gefahr: Wer sich zu stark am Geschmack des intendierten Lesepublikums ausrichtet, schreibt auf den Markt hin ausgerichtet. Eine eigene Stimme, ein eigener Stil wird so nicht ausgebildet. Stattdessen entstehen profillose Me-too-Produkte, die immer günstiger angeboten werden müssen, weil der Markt damit überschwemmt wird und allein der Preis als Unterscheidungsmerkmal bleibt. Was für Autor*innen auch bedeutet: Sie können noch schlechter von ihren Bücher leben als ohnehin schon.
Ein weiteres Szenario für Autor*innen: Planen Verlage ihre Werbebudgets anhand der Bestseller-Berechnungen der Software, wird womöglich Geld in profillose Me-too-Produkte gesteckt. Spannende, ungewöhnliche, überraschende, Raster durchbrechende Romane könnten aus dem Blick, aus dem Budget und damit aus der ökonomischen Gewinnzone rutschen, mit der Folge, dass deren Autor*innen künftig nicht mehr verlegt werden.
2018 veranstaltete QualiFiction in Zusammenarbeit mit dem FeuerWerke Verlag, Hamburg, einen Wettbewerb: Rund 200 eingesandte Romanmanuskripte wurden per Software analysiert, die 25 besten davon ausgewählt und an den FeuerWerke Verlag weitergeleitet. Dieser hat ganz altmodisch das vielversprechendste Manuskript via Sichtung und „Bauchgefühl“, so heißt es auf der Website von QualiFiction, gewählt. Der Roman soll im Sommer 2019 erscheinen. Ob er dann tatsächlich die Erwartungen erfüllt, die Software und Verlag an ihn haben, wird sich zeigen.
Wird digitale Manuskriptbeurteilung unsere Arbeit als freie Lektor*innen beeinflussen?
Von allen Zweifeln und Kritikpunkten einmal abgesehen: Software wie jene von QualiFiction wird sich vermutlich über lang oder kurz im Verlagswesen etablieren – vielleicht nicht in der gegenwärtigen Form, vielleicht braucht es noch ausgefeiltere Programme, um nicht nur Mainstream zu begünstigen, was sehr wünschenswert wäre. QualiFiction arbeitet nach eigenen Angaben bereits mit mehreren deutschsprachigen Verlagen zusammen, und auch in den USA werden Computerprogramme zur Beurteilung von Manuskripten eingesetzt, wie VFLL-Kollege Walter Greulich von der future!publish 2019 berichtete. Wird das unsere Arbeit als freie Lektor*innen beeinflussen? In irgendeiner Form bestimmt, denn die Digitalisierung wird das Verlagswesen, das Lesen, die Literatur, Kultur überhaupt, im Laufe der Jahre verändern und damit auch unser Berufsfeld.
Ganz sicher wird dies aber den Beruf der Lektorin beziehungsweise des Lektors an sich nicht überflüssig machen, wie im Beitrag „KI im Verlagswesen – Welche Arbeitsplätze sind ersetzbar?“ behauptet wird. Zum einen ist unsere Arbeit wesentlich vielfältiger, als dort suggeriert wird. Zum anderen zeigt schon die Überschrift, dass man auf eine*n gute*n Korrekturleser*in nicht verzichten kann. Unser Berufsstand wird also nicht untergehen, aber ganz sicher werden sich die Aufgaben im Laufe der Zeit verändern, vielleicht kommen auch Aspekte hinzu, mit denen wir heute noch gar nicht rechnen können.
Neue Arbeitsschwerpunkte?
Vielleicht verschiebt sich der Schwerpunkt unserer Arbeit mehr in Richtung Autor*innenberatung. VFLL-Kollegin Susanne Pavlovic arbeitet bereits mit QualiFiction zusammen und bietet Autor*innen an, deren Manuskript zunächst mithilfe von LiSA zu analysieren, um dann gemeinsam die Ergebnisse zu interpretieren und eine Strategie zu entwickeln, die Erkenntnisse umzusetzen.
Die Digitalisierung der Verlagswelt wird das Berufsfeld von Lektor*innen verändern, daran besteht kein Zweifel. Vielleicht ist das Fachbuch auf andere Weise betroffen als das populäre Sachbuch oder die Belletristik – das wird sich zeigen. Die Veränderungen werden nicht in jeder Hinsicht ein Gewinn sein, doch bei aller berechtigter Skepsis wird es auch positive Aspekte geben: Sehr wahrscheinlich ergeben sich neue Arbeitsschwerpunkte und eröffnen sich neue Tätigkeitsbereiche. Gegen die Veränderung des Verlagswesens können wir uns nicht stemmen. Besser scheint es darum, auf negative Aspekte hinzuweisen, Chancen zu suchen und den Wandel in irgendeiner Form mitzugestalten, als von ihm überrollt zu werden.
Foto: Dr. Kirsten Reimers / Dirk Schönfeldt, Elmshorn
Dr. Kirsten Reimers’ Website und Profil im VFLL-Lektorenverzeichnis
Zur Rezension von Hans Peter Röntgen zum „Der Bestseller-Code“