Gemeinsam für mehr Wir: In Halle fand am Wochenende vom 8. zum 9. November die rechte Buchmesse „Seitenwechsel“ statt. Das WIR-Festival hielt mit seinen rund 400 Veranstaltungen in den vergangenen Wochen dagegen. Der VFLL war mit einem eigenen Event dabei.
von Annalena Rauh, Jürgen Schreiber und Nadja Nitsche
Manchmal braucht es nur ein paar E-Mails, ein spontanes Brainstorming, spätnächtliches Texte-Checken und jede Menge Chaos, damit man sechs Wochen später in einem Raum voller Menschen sitzt, die sich für eine vielfältige, inklusive und bunte Textkultur einsetzen.
Die Regionalgruppe Leipzig des VFLL hat im Oktober genau das auf die Beine gestellt. Im Rahmen des WIR-Festivals in Halle (Saale) hat sie einen Vernetzungsstammtisch für Büchermenschen aus verschiedensten Arbeitsfeldern und Verbänden organisiert, getreu dem Festival-Gedanken: Gemeinsam sind wir stärker.
Was ist das WIR-Festival?
„Als Lektor, der im stillen Kämmerlein seine Arbeit macht und die Welt da draußen oft bloß durch sein Fenster sieht, war ich in den vergangenen Jahren nicht selten resigniert“, sagt Jürgen Schreiber, Mitglied der Regionalgruppe Leipzig. Angesichts der vielen Wahlsiege und Stimmenzuwächse populistischer und radikaler Parteien hier wie anderswo habe er sich ohnmächtig gefühlt. Die Propagandamanöver dieser Parteien und die zunehmende Eroberung des öffentlichen Raums durch demokratiefeindliche Akteur*innen hätten dieses Gefühl noch befeuert.
In das trostlose Bild passte auch die Nachricht, dass die Saalestadt Halle am 8. und 9. November 2025 Veranstaltungsort einer Buchmesse namens Seitenwechsel sein würde. Dort sollten neben Autor*innen aus dem Dunstkreis der Neuen Rechten wie Matthias Matussek und Götz Kubitschek auch rechtsextreme Verlage und Aussteller*innen vertreten sein, beispielsweise der Verlag Antaios, vom Verfassungsschutz seit 2024 als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft. Initiiert wurde die Publikumsmesse von Susanne Dagen, Buchhändlerin und kulturpolitische Sprecherin der AfD-Fraktion im Dresdner Stadtrat. Nicht nur das Ausstellerverzeichnis machte bereits vorab deutlich, dass die Messe vor allem zur Vernetzung konservativer, rechter und rechtsextremer Kreise beitragen sollte.
Jürgen Schreiber erzählt: „Doch dann hörte ich vor einigen Monaten von einer Initiative, die sich der Messe entgegenstellen wollte. Sie wollte den Narrativen der rechten Propaganda etwas entgegenhalten, das mehr Kraft hat als jede Protestparole: eine offene Stadtgesellschaft, die sich zur kulturellen Vielfalt bekennt und diese Vielfalt täglich selbst immer wieder aufs Neue erschafft. Das hat mich überzeugt.“
Diese Initiative mündete in das WIR-Festival, das dieses Jahr, unterstützt unter anderen vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, zum ersten Mal in Halle ausgerichtet wurde. Es versteht sich als Literatur- und Kulturfestival, das verbindet, statt zu trennen, und Raum für Ideen und Begegnungen schafft.
Entstanden als zivilgesellschaftliche Initiative von Kulturschaffenden, Wissenschaftler*innen, Einzelhandelsakteur*innen sowie weiteren engagierten Bürger*innen, ist das WIR-Festival innerhalb weniger Wochen zu einem echten Label geworden. Mit seinen zahlreichen leuchtenden Sprechblasen-Logos und den großen Schaufenster-Zitaten ließ es sich im Stadtbild von Halle kaum noch übersehen.
Das Festival bestand aus Hunderten dezentral organisierten Veranstaltungen – von Lesungen über Konzerte und Theater bis hin zu Gesprächsrunden und kreativen Aktionen. Über sieben Wochen hinweg zeigten alle diese Events, wie aktiv, bunt und vielfältig die Literatur- und Kulturszene in Halle ist. Und wie viel Kraft eine Bewegung haben kann, die sich offen gegen antidemokratisches Verhalten und für Menschenwürde positioniert.
Aber was genau hat das mit dem VFLL zu tun?
„Wir bearbeiten und unterstützen keine Publikationen, deren Inhalte die Menschenwürde verletzen.“
Diesen Satz im Verhaltenskodex hat jedes VFLL-Mitglied beim Eintritt in den Verband unterschrieben. Im Arbeitsalltag sind wir vor allem mit der Frage konfrontiert, wie wir als Lektor*innen bei allen Texten für Wertschätzung und Respekt einstehen können. Welche Handlungsspielräume haben wir? Und wie können wir als Individuen, aber auch als Verband diese Werte nicht nur in unserer Arbeit, sondern auch darüber hinaus transportieren?
„Die Idee zu einem Stammtisch entstand aus zwei Gedanken“, erinnert sich Jürgen Schreiber. „Zum einen dem Wunsch, niederschwellig und kurzfristig die Festivalidee und die WIR-Initiative zu unterstützen. Schließlich finde ich es wichtig, dass man den öffentlichen Raum nicht einfach hergibt, sondern gewissermaßen mit positiven Ideen und kulturellen Angeboten besetzt. Zum anderen fand ich es sinnvoll, den VFLL sichtbar zu machen: als Branchenverband und auch als Vertretung von Kulturschaffenden, die sich zur kulturellen Vielfalt, zur Menschenwürde und zur offenen Gesellschaft im Grundsatz bekennen. Ich glaube, dass kein Interessenverband in diesen Zeiten gesellschaftspolitisch völlig enthaltsam sein sollte.“
Von der Idee zum Stammtisch
So entschieden sich drei VFLL-Mitglieder aus Halle, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Der Plan: Der regelmäßig in Halle stattfindende VFLL-Stammtisch sollte für Interessierte geöffnet werden. Ein Vernetzungsstammtisch für Kulturschaffende aus der Buchbranche.
„Getreu dem Festival-Motto WIR haben wir uns entschieden, uns mit den Bücherfrauen zusammenzutun und möglichst viele andere Verbände der Buchbranche zu mobilisieren“, erklärt Annalena Rauh. „Denn: Lernen und neue Perspektiven gewinnen geht nur durch Austausch. Indem wir uns untereinander vernetzen, erweitern wir nicht nur unsere eigenen Horizonte, sondern können Gleichgesinnten den Rücken stärken und gemeinsam an Lösungen arbeiten.“
Also haben die drei Mitglieder der RG Leipzig Mails und Nachrichten verschickt, ihre eigenen Netzwerke genutzt und mit so vielen Menschen wie möglich über ihre Ideen gesprochen. Am 30. Oktober 2025 fanden sich schließlich elf Büchermacher*innen in einer Kneipe im Norden von Halle ein. Ein Wegweiser klebte an der Tür zum Nebenraum, an der Seite gab es eine Mitmach-Station, an der sich Besucher*innen anhand von Fragen mit ihrem eigenen Umgang mit Sprache auseinandersetzen konnten. Dicke Mäntel wurden ausgezogen, und auf jede neue Begrüßung folgte eine kurze Vorstellungsrunde.

Links: Mitmach-Plakat zum verantwortungsvollen Umgang mit Sprache, Foto © Annalena Rauh
Rechts: Zum offenen Stammtisch, Foto © Annalena Rauh
Nicht nur Büchermenschen aus Halle und Leipzig hatten sich am Tisch eingefunden, sondern auch einige, die extra aus Jena angereist waren. Studierende, Berufseinsteiger*innen, erfahrene Lektor*innen und Übersetzer*innen kamen so ungezwungen miteinander ins Gespräch
Den ganzen Abend lang tauschten sich alle über verschiedenste Aspekte der Spracharbeit aus. Das ging von Möglichkeiten, in der Branche Fuß zu fassen, über die Vorteile einer Gewerkschaftsmitgliedschaft bis hin zu jeder Menge Literaturtipps. Es gab sogar Diskussionen darüber, inwiefern man die Songtexte auf Taylor Swifts neuem Album kritisch beleuchten könne.

Angeregte Gespräche, beide Fotos © Annalena Rauh
Wie geht es nun weiter?
Mehr als 400 Veranstaltungen, geschätzte 12.000 Teilnehmende und 300 Sprechblasen-Logos auf Schau- und Einrichtungsfenstern: Der große Erfolg des WIR-Festivals lässt hoffen, dass die Veranstaltungsreihe nächstes Jahr erneut stattfindet. Für den VFLL bzw. die Regionalgruppe Leipzig heißt das: Nach dem Stammtisch ist vor dem Stammtisch. Mit dieser ersten Vernetzungsrunde hat das Orga-Team einen Grundstein für den weiteren Austausch mit anderen Branchenverbänden und Büchermenschen in der Region gelegt. Eine weitere Zusammenarbeit und gemeinsame Veranstaltungen sind bereits im Gespräch.
Jürgen Schreiber zieht ein positives Fazit: „Die zahlreichen dezentral organisierten Kulturveranstaltungen haben mir erst wirklich klargemacht, wie groß das kulturelle Angebot in dieser Stadt eigentlich ist – und was es für solch ein reiches Angebot braucht: eine eben offene, demokratisch gesinnte Stadtgesellschaft, in der sich gemeinsam lachen, tanzen und schwelgen, aber auch weinen, gedenken und streiten lässt.“ Eine Veranstaltung, die Hoffnung macht also? Es klingt ganz danach, wenn Jürgen sagt: „Besonders war für mich persönlich die Erkenntnis, dass der öffentliche Raum in meiner Stadt noch lange nicht verloren ist, dass ich vor Ort gemeinsam mit anderen mitentscheiden kann, wie dieser Raum gestaltet wird – und dass es sich lohnt, ihn zu verteidigen.“
Text: Annalena Rauh, Jürgen Schreiber und Nadja Nitsche
Redaktion: Cornelia Thoellden
Aufmacherbild: Der WIR-Festival-Vernetzungsstammtisch in Halle/Saale, Foto © Nadja Nitsche
Annalena Rauh: Website und Profil im VFLL-Lektoratsverzeichnis
Jürgen Schreiber: Website und Profil im VFLL-Lektoratsverzeichnis
Nadja Nitsche: Profil im VFLL-Lektoratsverzeichnis
Der VFLL auf mehr Veranstaltungen:
Jubiläumskongress des Börsenvereins
Fachtagung des Berufsverbandes Text und Konzept e. V.