Die FAZ-Redakteurin Heike Schmoll hält die heute gültigen Rechtschreibregeln für ein „Unglück der Sprachgeschichte“. Jürgen Hahnemann hält das für Unsinn – ein Kommentar.
Von Jürgen Hahnemann
Am 1. August 2018, genau zwanzig Jahre nach dem flächendeckenden Inkrafttreten der Rechtschreibreform, veröffentlichte die FAZ einen Artikel, der die Vereinfachung der deutschen Rechtschreibung als „gründlich misslungen“ bezeichnet. Am selben Tag postete die Online-Redaktion ein Zitat aus diesem Artikel, nämlich die These, dass uns die Rechtschreibreform die bedrohliche Rechtschreibanarchie unserer Tage eingebrockt habe. Offensichtlich taugt diese Frage auch heute noch dazu, die Gemüter derjenigen zu erregen, die sich Rechtschreibregeln als unveränderliche Naturgesetze wünschen.
Bei genauer Betrachtung handelt es sich bei diesem Artikel aber eher um das sprachpuristische Pamphlet einer Reformgegnerin der ersten Stunde – nicht umsonst hat Heike Schmoll 2005 den Deutschen Sprachpreis der Henning-Kaufmann-Stiftung erhalten, die sich für die „Pflege der Reinheit der deutschen Sprache“ einsetzt. Nun ist die FAZ in der Vergangenheit ja nicht gerade durch Neutralität in Sachen Rechtschreibreform aufgefallen, zumindest aber durch seriösen Journalismus. Dass die Online-Redaktion ein solches Pamphlet veröffentlicht und noch nicht einmal als Kommentar kennzeichnet, ist da schon mehr als verwunderlich.
Beeindruckend allein die Zahl der anerkannten unabhängigen Studien, mit der die Journalistin ihre These von der bösen Rechtschreibreform untermauert, nämlich genau null. Kein Wunder, wird doch das Bildungsbürgermärchen, dass die Orthografie-Unkenntnis hierzulande dramatisch zugenommen habe und die Rechtschreibreform dafür verantwortlich sei, auch durch noch so häufige Wiederholung nicht wahrer. Zudem hat die Reform der Reform von 2004/2006 zum Leidwesen ihrer Gegner die großen Ärgernisse beseitigt und einen gangbaren Weg aus dem Dilemma gefunden.
Auch vor der Rechtschreibreform musste man im Duden nachschlagen, aber damals hat man es dank strenger Oberlehrer und sozialer Ächtung von Rechtschreibfehlern noch getan – während man seine Faulheit heutzutage als individuelle Freiheit verklärt und mit der bequemen Ausrede von den ach so verwirrenden Rechtschreibvarianten kaschiert. Wer in dieser Situation aus Sorge um die „Reinheit der deutschen Sprache“ vor der bösen Rechtschreibreform und dem Sprachpanscher-Duden warnt, deckt in Wirklichkeit kein Problem auf, sondern ist Teil des Problems.
Natürlich kann man als „Anbiederung an Sprachmoden“ verurteilen, dass der Dudenverlag den Ratgeber „Richtig gendern“ herausgibt – aber wenn man sich dieser Anbiederung verweigert, findet man sich irgendwann im Rückzugsgefecht der kleinen Schar wieder, die einen antiquierten Sprachstand verteidigt. Und dass die Dudenredaktion vor kurzem auch die Streitschrift „Warum es nicht egal ist, wie wir schreiben“ herausgegeben hat, wird in diesem Zusammenhang wohlweislich übersehen.
Ursächlich hat die zunehmend wahrgenommene Beliebigkeit in Sachen Rechtschreibung wenig mit der Rechtschreibreform zu tun, sondern ist das Ergebnis einer doppelten Entwicklung: Zum einen sind hier die Sparmaßnahmen der Verlage bei Lektorat und Korrektorat zu nennen; zum anderen ist die Zunahme von Rechtschreibfehlern die negative Kehrseite der Demokratisierung des Schreibens und Veröffentlichens – zum Beispiel in sozialen Netzwerken oder im Selfpublishing. Dennoch ist es in einer offenen Gesellschaft grundsätzlich positiv zu beurteilen, dass das öffentliche Schreiben nicht von einem bestimmten Bildungs- oder Perfektionsgrad in Sachen Rechtschreibung abhängig ist.
Wer etwas vom Wesen der Sprache versteht, weiß zudem um die Dialektik von Stabilität und Wandel kultureller Normen, um die gleichzeitige Notwendigkeit von Regel und Regelbruch. Und merkt irgendwann auch, dass die angebliche Schönheit korrekten Sprachgebrauchs in erster Linie eine Trägheitsfunktion unseres Gehirns ist, das lieber auf Vertrautes als auf Unerwartetes trifft. Weil Letzteres mehr Aufwand bei der Verarbeitung erfordert, werden vertraute Wort- und Sprachbilder mit positiven Emotionen belohnt – dass die „Reinheit der deutschen Sprache“ als positiv empfunden wird, liegt nicht im Wesen der Sprache begründet, sondern in der Gewöhnung an einen bestimmten Sprachstand.
Mit den aktuellen Rechtschreibregeln lässt sich wunderbar arbeiten, wie ich und viele meiner Lektorenkolleginnen und -kollegen bestätigen können. Das amtliche Regelwerk des Rats für deutsche Rechtschreibung ist ganz gewiss kein „Unglück der Sprachgeschichte“, sondern in vielen Punkten der zurzeit bestmögliche Kompromiss – und damit genau der „vernünftige Referenztext für die Regeln“, den es laut Heike Schmoll nicht gibt. Ja, die alte Rechtschreibung ist viel besser als ihr Ruf – die neue aber auch.
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