Am 21. und 22. November 2014 besuchte ich ein Seminar zur Einführung in Leichte Sprache in Kassel. Ich habe gelernt: Diese Arbeit an den Texten hat nichts mit Lektorat zu tun, sondern ist echtes Übersetzen in eine neue Sprache. Im Februar 2015 bietet übrigens auch der VFLL in Berlin einen Lehrgang für Leichte Sprache an.
Von Adelheid Schmidt-Thomé
Woher kommt die Leichte Sprache?
Am 3.5.2008 ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft getreten. Sie beinhaltet – neben der Bekräftigung allgemeiner Menschenrechte für behinderte Menschen – spezielle, auf die Lebenssituation behinderter Menschen abgestimmte Regelungen.
In Artikel 21 geht es um Barrierefreiheit: Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich, Menschen mit Behinderung gleichberechtigten, diskriminierungsfreien Zugang zur physischen Umwelt und zu öffentlichen Einrichtungen und Diensten zu gewährleisten.
Zu der physischen Umwelt gehört auch die Kommunikation. Dass schwierige oder schwere Sprache eine Barriere sein kann, wissen wir alle. In diesem Zusammenhang gewinnt die Leichte Sprache (LS) seit 2009 an Bedeutung, denn die o. g. Einrichtungen sind gehalten, sich auch in LS darzustellen bzw. den Menschen Informationen zugänglich zu machen.
Neben der LS spricht man auch von einfacher (oder verständlicher) Sprache. Das ist nicht dasselbe.
- Einfache Sprache möchte Menschen mit geringer Lese- und Schreibkompetenz Texte verständlicher und zugänglich machen.
- Leichte Sprache dient Menschen mit Lernschwierigkeiten oder kognitiven Behinderungen. Die Idee kommt aus den USA und wurde ab 1996 von „People First“ entwickelt. 2001 wurde in Deutschland der Verein „Mensch zuerst“ gegründet, der zwei Wörterbücher für LS herausgab. Seit 2006 gibt es das „Netzwerk Leichte Sprache“. 2009 entstand das Regelwerk für LS.
Wohlfahrtseinrichtungen haben oft eigene Übersetzungsbüros, Übersetzungen für „Externe“ besorgen Dienstleister (im Norden und Westen Deutschlands gibt es mehr als im Süden.) Menschen mit Behinderung, qualifizierte Prüfer, lesen die übersetzten Texte gegen. Für die auf diese Weise übersetzten und geprüften Texte gibt es ein Gütesiegel von „Inclusion Europe“.
Die Zielgruppen – Menschen mit Lernschwierigkeiten oder kognitiven Behinderungen, Menschen mit Migrationshintergrund, die noch wenig Deutsch können, alte oder demente Menschen, evtl. sogar Jugendliche – vermischen sich, je nach Text.
Politische und gesellschaftliche Aspekte
Kursteilnehmer waren hauptsächlich Menschen aus sozialen oder öffentlichen Einrichtungen, ein paar Freiberufler, u. a. eine Texterin und ich, die einzige Lektorin.
Am ersten Tag haben wir vor allem diskutiert:
- Über Einwände und Vorbehalte von außen wie „da wird schlechtes Deutsch transportiert“ über „man muss die Menschen nur besser unterrichten“ bis hin zur Sorge, dass die Politik Verbesserungen im Schulsystem nicht mehr für nötig halten könnte, wenn man Zugang zu Infos auch „ohne Bildung“ erlangen kann. Also: Sorge vor der altbekannten Taktik, das eine (hier: Wissensvermittlung durch außerschulische Aktionen) gegen das andere (hier: Geld für Bildung) auszuspielen.
- Darüber, welche Zielgruppe was benötigt.
Dass aber an Inklusion (der sprachlichen in dem Fall) kein Weg vorbeiführen darf, macht ein Argument von Frau Tischner deutlich: Man könne niemandem den Rollstuhl wegnehmen, der ihn benötigt, der lernt das Laufen schon, wenn er übt.
Diese gesellschaftliche, bildungspolitische Problematik beleuchtet übrigens sehr gut die Beilage „Leichte und Einfache Sprache“ zur Wochenzeitung „Das Parlament“ vom 24. Februar 2014, zu bestellen bei der Bundeszentrale für Politische Bildung.
Die Regeln für Leichte Sprache wurden erstellt vom Netzwerk, sie sind klar und schnell zu lernen. Ein paar Beispiele:
- Einfache, allgemein verständliche Wörter
- Genaue Beschreibung (Bus und Bahn statt öffentlicher Nahverkehr)
- Verzicht auf Fach- und Fremdwörter
- Kurze, unkomplizierte Sätze ohne Genitiv und Konjunktiv
- Jeder Satz steht in einer neuen Zeile
- Schriftgröße mindestens 14 Punkt
Wobei es Abweichungen gibt, die kontrovers diskutiert und bewertet werden. Wichtigstes Beispiel ist der Trennstrich, der Haupt-Worte trennt und damit lesbarer macht. Die Uni Hildesheim favorisiert die Lösung Haupt·wort. Verständlich wird die Argumentation beim Haupt-Bahnhof, der als Haupt·bahnhof eher wiedererkannt wird und gleichzeitig die korrekte Schreibweise wiedergibt, so die Argumentation der Uni.
„Ich möchte meine Briefe selber lesen können.“
Arbeit mit Texten
Den Satz, den ich als Motto gewählt habe, sagte Nina Rademacher. Sie ist Prüferin beim Büro „leicht ist klar“ in Kassel. Sie hat uns am zweiten Tag begleitet. Und diese ihre Aussage hat mich am meisten von der Notwendigkeit einer LS überzeugt.
Eine ähnliche Aufgabe wie der schon erwähnte Rollstuhl hat also die LS. Sie soll Menschen mit Lernschwierigkeiten, alten / dementen Menschen oder Menschen mit Migrationshintergrund ermöglichen, Texte zu verstehen. Zum Beispiel den Brief von der Bank, vom Arbeitsamt, den Beipackzettel, den Arzt, den Internetauftritt von wem auch immer.
Dafür werden Übersetzer ausgebildet, die diese Texte übertragen. Und Prüfer aus der Zielgruppe, die die übersetzten Texte auf Verständlichkeit gegenlesen.
Die Regeln zum Übersetzen kann man schnell lernen. Aber damit ist es nicht getan, das Schwierige kommt danach: das Übersetzen. Diese Arbeit an den Texten hat nichts mit Lektorat zu tun, sondern ist echtes Übersetzen in eine neue Sprache. Das haben wir gemerkt, als wir versucht haben, Texte (von sozialen Organisationen übrigens) zu übersetzen.
Und hier kommt eine zweite Erkenntnis: Viele Texte in schwerer Sprache sind schlichtweg miserabel! Das wissen wir als LektorInnen natürlich, daran arbeiten wir. Trotzdem wurde mir nochmal klar, was wir alles lesend überlesen und (meistens) verstehen, ohne uns groß Gedanken dazu zu machen. Keiner dieser Probetexte war ohne Hintergrundwissen übertragbar, bei jedem hätte man mit der Organisation Rücksprache halten müssen darüber, was ihr in ihrem Flyer, Internetauftritt etc. eigentlich wichtig ist. Was sie mit einzelnen Formulierungen, z. T. auch nur mit kleinen Adjektiven oder Konjunktionen ausdrücken möchte.
Die Arbeit ist:
- Kernaussagen aus den schweren Texten zu filtern
- sich, wo nötig, vertieftes Wissen anzueignen
- Unnötiges zu eliminieren
- die Kernaussagen umzuformulieren in kurze, verständliche Sätze (nach den Regeln), ohne jene dabei unangemessen zu vereinfachen oder den Leser zu bevormunden
- immer wieder zu überprüfen, ob man noch bei der ursprünglichen Aussage ist
- sich zu überlegen, was die Menschen aus der Zielgruppe nicht verstehen könnten (dazu gibt es dann aber auch Prüfer)
Ein Problem kann auch das Layout werden, da die Texte fast immer umfangreicher werden. Schon allein wegen der Schriftgröße und der Illustrationen, die den Text unterstützen sollen.
Ein Beispiel: Die Übersetzung eines Flyers macht unverhältnismäßig viel Arbeit. Man hat einen komprimierten Text und wenig Platz. Abgesehen davon, dass das Format generell ungeeignet sein kann, weil Menschen mit Behinderung möglicherweise den aufgeschlagenen Flyer komplett von links nach rechts lesen würden. Man muss also ggf. mit dem Auftraggeber besprechen, ob nicht ein anderes Format sinnvoll wäre.
Das alles erfordert Übung.
Ich hatte schon immer das Bedürfnis, Texte verständlich zu machen. Beruflich als Lektorin; aber auch im privaten Alltag. Auch ich, als Akademikerin, scheitere häufig – und immer öfter – an Texten, die mir eigentlich dienen sollen, und die ich nur mit Mühe (wegen der umständlichen Darstellung) oder gar nicht mehr (wegen der unnötig komplizierten Sprache oder wegen Fachbegriffen) verstehe.
Deshalb kann ich mir eine Arbeit mit Leichter (oder auch nur mit verständlicher) Sprache gut vorstellen. Allerdings bedarf es noch einiger Arbeit, bis ich mir zutrauen werde, das anzubieten. Und ob – und wie – sich Auftraggeber finden lassen, die bereit sind, Geld in die Hand zu nehmen, ist ein Aspekt, der auch bedacht werden will.
Text: Adelheid Schmidt-Thomé