In der öffentlichen Lesung „Flucht kann Leben retten“ wurden Texte deutscher und arabischer Autoren über Flucht und Asyl vorgetragen. Die Veranstaltung war Teil der diesjährigen IndieBookWeek des SpecOps network. Sie wurde vorbereitet in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Abdo Abboud von den Universitäten Damaskus und Münster. Die Lesung unterstützten der Förderverein Arabische Sprache e. V. und der VFLL.
Von Georg-D. Schaaf
Bereits die öffentliche Ankündigung der Lesung „Flucht kann Leben retten“ sollte mögliche Brechungen des aktuellen Themas andeuten, etwa durch einen Verweis auf das Bild Guernica 2015 des bulgarischen Zeichners Javcho Savov, der freien Übertragung eines der berühmtesten politischen Bilder Picassos auf die lebensgefährliche Flucht vieler Menschen wegen Krieg und Repression über das Mittelmeer – vor der heilen Kreuzfahrtkulisse Europas. Das Erleben von existenzieller Bedrohung durch staatliche und nichtstaatliche Gewalt sowie von Flucht zur Lebensrettung sind auch festes Erinnerungsgut in Deutschland. Zu den wiederkehrenden Erfahrungen von Menschen auf der Flucht gehören zudem große Hilfsbereitschaft einerseits und aggressive Ablehnung andererseits – unabhängig von Zeit, Religion, Gesellschaft und kultureller Prägung der Flüchtenden. Dass Flucht Leben retten kann, ist keineswegs selbstverständlich.
Etwa 70 Gäste verfolgten am 22. März die Lesung im gut gefüllten Kulturzentrum SpecOps. Durch den Abend begleiteten mit ihren Stimmen: aus Münster Maike Frie, Lektorin und Mitglied im VFLL, die Germanistin Dr. Riham Salem, der Germanist und Komparatist Abdo Abboud und Georg-D. Schaaf, aus Köln der frühere Musikpädagoge und Liedbegleiter Udo W. Hombach.
Die Lesung begann mit einer kurzen Einführung von Abdo Abboud in den Begriff der Flucht in der arabischen Kulturgeschichte. Darauf folgten in drei thematischen Einheiten arabische und deutsche Texte aus verschiedenen Zeiten und Genres: „Am Ziel“ betrachtete den Moment, in dem eine einzelne Person oder eine ganze Gruppe von Menschen an einem fremden Ort – im wahrsten Sinne des Wortes – strandet und höchst unterschiedliche Reaktionen unter der einheimischen Bevölkerung hervorruft. In „Krieg, Verfolgung, Unterdrückung“ kennzeichneten arabische Gedichte den Moment der Entfremdung von den jeweils im eigenen Land herrschenden Verhältnissen. „Flucht und Projektion“ spannte erneut einen Bogen zwischen deutschen und arabischen Autoren mit verschiedenen historischen Hintergründen, von einer friedfertigen Antwort auf Gewalt über die Suche nach universellen Werten des Zusammenlebens bis hin zur inneren Emigration angesichts übermächtiger kolonialer Strukturen in Nordafrika.
Am Ziel: In der ersten Sektion machte in szenischer Lesung die Erzählung „Das Obdach“ von Anna Seghers den Anfang, geschrieben 1940 in Paris nach der Flucht aus Deutschland. Im Mittelpunkt steht darin eine Frau, die das Kind eines von der Gestapo verhafteten deutschen Regimegegners wie selbstverständlich in ihre Familie aufnimmt.
Das Maß der Selbstverständlichkeit menschlichen Handelns in Alltag und Beruf, im Krieg und angesichts von Millionen Menschen auf der Flucht ist auch Thema von Mahmut Darwischs Gedicht „Denk an den anderen“. Darwisch war einer der einflussreichsten palästinensischen Lyriker. Sein Gedicht wurde auf Deutsch und Arabisch vorgetragen.
Im Kontrast dazu stand eine kleine Auswahl rassistischer Hassparolen gegen deutsche Flüchtlinge der Nachkriegszeit: Nach dem Zweiten Weltkrieg trafen in den von den Alliierten besetzten Zonen Menschen einer zuvor als einheitlich beschworenen Nation und Kultur aufeinander, die zuvor zum größten Teil die systematische Ausgrenzung und Vernichtung von Juden, Sinti und Roma, Kommunisten, Homosexuellen und anderer gesellschaftlicher Gruppen zumindest billigend in Kauf genommen hatten. Während die einen buchstäblich nahezu allen Besitz verloren, waren die anderen von jeglichen Kriegsschäden verschont geblieben. Das war vor allem die Landbevölkerung, die die Flüchtlinge oft unter militärischem Zwang aufnehmen musste. Die Wortwahl dieser Hasskommentare wirkt in ihrer inhaltlichen Leere über die Zeiten hinweg austauschbar: Was damals Angehörige der jeweils anderen christlichen Konfession waren, scheinen heute Muslime zu sein.
Dagegen gab es starken Widerstand und auch Solidarität, in künstlerischer Hinsicht etwa mit Erich Kästners „Marschlied 1945“, geschrieben für ein Hamburger Kabarett.
Den Abschluss der ersten thematischen Gruppe bildete auf Deutsch und Arabisch das Gedicht „Die Hölle“ von Ashraf Fayadh, das mit den Zeilen endet: „Die Erde ist eine Hölle, / die für die Flüchtlinge bereitet wurde.“ Fayadh, in dritter Generation palästinensischer Flüchtling in Saudi-Arabien, ist wegen seiner auch religionskritischen Gedichte noch immer in Haft und ihm drohen – wenngleich die Todestrafe Anfang Februar 2016 aufgehoben wurde – weiterhin Peitschenhiebe.
Krieg, Verfolgung, Unterdrückung: Muhammad al-Maghut schreibt über „Die Angst des Briefträgers“, Gott einen Bericht mit der Schilderung sämtlichen menschlichen Leids zu übergeben, insbesondere über die Erfahrungen von Opfern physischer Gewalt. Ein solcher Bericht sei sinnlos: „… ich fürchte sehr / Gott ist Analphabet.“ Auch dieser Text wurde auf Deutsch und Arabisch vorgelesen.
Ähnlich eindringlich ist das lange Gedicht „Die Schwiegersöhne Gottes“ von Nizar Qabbani über den Missbrauch des Religiösen zur Legitimierung von Macht, Korruption und sozialer Ungleichheit: „… Ist es so: / Wer sein Volk ermordet, / wird der Schwiegersohn Gottes?“ Qabbani war lange Zeit syrischer Diplomat, ehe er in die Opposition ging. Er starb im Londoner Exil.
Das wieder zweisprachig vorgetragene Gedicht „Das Abendessen“ des ägyptischen Dichters Amal Dunqul ist dagegen geradezu still und pessimistisch angesichts der Rücksichtslosigkeit von Diktatoren im Umgang mit der eigenen Bevölkerung.
Flucht und Projektion: Zu Beginn stand Bertolt Brechts langes Gedicht „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“, geschrieben 1937 im dänischen Exil. Es spiegelt die langjährige Auseinandersetzung des Autors mit dem Taoismus wider. Nicht der gewaltsame Kampf gegen ein Regime, sondern gegenseitiger, höflicher Respekt unter den Opfern sowie das Einfordern und die Weitergabe von Wissen seien die Schlüssel zur Besserung der Verhältnisse.
Ähnlich undogmatisch ist das Gedicht „Amerika!“ von Sa’adi Yusuf, eine kritische Gegenüberstellung der gewünschten westlichen Werte mit den tatsächlich erhaltenen „Produkten“ westlicher Interventionen in den arabischen Ländern der vergangenen Jahrzehnte.
Vom marokkanischen Lyriker Abdelkarim Tabbal war das Gedicht „Fremde“ zu hören. Ein Hauptmotiv seines Schreibens ist die Vorstellung von Lyrik als einer nie endenden Reise.
„Das Lied der ersten Fremde“ von Mouhamed al-Faituri spricht von der traumatischen Erfahrung kolonialer Fremdbestimmung afrikanischer Völker durch europäische und arabische Mächte bis hinein in die literarische Sprache. Geboren im Sudan erlebte der Lyriker den Zweiten Weltkrieg als Kind in Alexandria.
Im Anschluss an die Lesung benannte Abdo Abboud, auch unter Verweis auf die eigene Biografie, als Hauptursache für die millionenfache Flucht von Menschen aus Syrien die schon Jahre dauernde unglaubliche Brutalität des Bürgerkriegs. Riham Salem und Udo W. Hombach erinnerten schließlich noch an weitere schwerwiegende Formen der Flucht: die innere Emigration und die Fahnenflucht.
Zugunsten der Flüchtlingshilfe Münster Ost wurden Spenden gesammelt. Ein Betrag von 52 EUR kam zusammen.
Allen Beteiligten herzlichen Dank für die Mitwirkung und ebensolchen Dank für jede Unterstützung! Das SpecOps ist ein wunderbarer Ort für eine solche Lesung.
Georg-D. Schaafs Website und sein Profil im Lektorenverzeichnis
Lesung für Ashraf Fayadh und die Freiheit des Wortes
Großes Bild (v. l.): Udo W. Hombach, Maike Frie, Abdo Abboud, Dr. Riham Salem und Georg-D. Schaaf
Alle Bilder: Kirsten Krumeich, Münster