Symbolbild Sprachwandel Neuauflage; Leitfaden Freies Lektorat;

Wie Sprache sich wandelt: Ein neues Kapitel im „Leitfaden Freies Lektorat“

Am 26. September 2023 war es endlich so weit: Die Neuauflage des „Leitfaden Freies Lektorat“ in einer neu bearbeiteten und erweiterten Ausgabe ist erschienen. Die mittlerweile 12. Auflage umfasst 320 Seiten, ist randvoll mit Fachwissen und Praxistipps, Fakten und Erfahrungsberichten. Zum ersten Mal widmet sich im neuen Leitfaden ein ganzes Kapitel dem Sprachwandel, über das Dr. Wenke Klingbeil-Döring, eine der Mitautorinnen des Kapitels, im Blog berichtet.

Von Dr. Wenke Klingbeil-Döring

     Es bringet wahrlich große Fülle, mit gescheiten und holdseligen Gesellen an einer edlen Tat zu werken, die dem Herzen nahet. Davon will ich hier berichten. Mögen meine Worte jene, die sie vernehmen, mit frischer Klugheit erquicken und zu eigenen Taten erwecken!

Vor 300 Jahren hätte ich diesen Text so beginnen können, heute irritiert eine solche Sprache. Der Grund: Sprachwandel. Unsere Sprache verändert sich, schon immer und stets und ständig. Der Wandel ist ihr gewissermaßen eingeschrieben. Sprache bildet die Umstände ab, für die sie gebraucht wird, sie nimmt Einflüsse auf und nimmt ihrerseits Einfluss. Worte und Wendungen verschwinden aus unserem Sprachgebrauch, neue kommen hinzu, Begriffe werden hinterfragt, Sachverhalte anders oder neu abgebildet. Gegenwärtig wird uns als Sprachgemeinschaft mehr und mehr bewusst, welche Rolle Sprache eigentlich spielt, welche Macht sie bisweilen hat. Daran passen wir unseren Sprachgebrauch an. Wirklichkeit prägt Sprache und Sprache prägt Wirklichkeit. Für uns Lektor*innen ist das natürlich ein Thema.

Deshalb widmet sich im neuen „Leitfaden Freies Lektorat“, der am 26. September erschienen ist, erstmals ein ganzes Kapitel dem Sprachwandel. Wie es sich für einen Leitfaden gehört, ist das Kapitel praxisnah: Was macht Sprachwandel aus? Wie beeinflusst er unsere Arbeit als Lektor*innen? Wie können wir mit ihm umgehen? Der VFLL hat seit 2019 eine Arbeitsgemeinschaft zum Thema, hier ist das neue Kapitel entstanden. Ich habe mitgeschrieben, außerdem sechs weitere Kolleg*innen aus der AG Sprachwandel. Die Chefredakteurin des Duden, Kathrin Kunkel-Radzum, hat ebenfalls einen Beitrag beigesteuert.

Das neue Kapitel ist also ein Gemeinschaftsprojekt: Wir haben abgestimmt, welche Themen bearbeitet und welche Schwerpunkte gesetzt werden, welchen Anteil Theorie und Praxis jeweils haben sollen und wie sich die Aspekte sinnvoll miteinander verknüpfen lassen. In einem eintägigen Online-Workshop hat jede* von uns ihre* Textskizze zur Diskussion gestellt, wertvolle Hinweise gegeben und erhalten. Die gemeinsame Arbeit am Kapitel war das, was der VFLL für mich ist: produktive und lehrreiche Kooperation, wertschätzender Austausch, anerkennende Kritik und ein Miteinander ganz verschiedener Perspektiven, Zugänge und Expertisen. Das macht auch die Qualität des Kapitels aus, in das vielfältige Erfahrungen und Einsichten – professionelle wie persönliche – eingeflossen sind.

Einen Einblick in die Arbeit der Dudenredaktion gibt Kathrin Kunkel-Radzum in ihrem Beitrag. Wie geht man hier mit dem Sprachwandel um? Wonach wird entschieden, welche Begriffe es in eine Neuauflage des (Rechtschreib-)Duden schaffen und welche nicht mehr auftauchen? Auch wenn mit jeder Überarbeitung 3.000 bis 5.000 Wörter neu in den Duden aufgenommen und problematische Begriffe inzwischen erläutert werden, ist damit dem Sprachwandel, so Kunkel-Radzum, noch längst nicht Genüge getan.

Tatsächlich lassen sich nicht einzelne Phänomene als Sprachwandel qualifizieren. Sprachwandel vollzieht sich auf unterschiedlichen Ebenen, etwa auf phonologischer, semantischer, lexikalischer, pragmatischer oder soziokultureller Ebene. Das stellen die VFLL-Kolleg*innen in ihren Beiträgen heraus, die den Sprachwandel aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten.

Anhand einiger ausgewählter Beispiele zeigt Nadja Nitsche im ersten Teilkapitel zur historischen Dimension von Sprache, dass alle Sprachphänomene, die wir heute für gegeben halten, eine Vorgeschichte haben; anders gesagt: Die uns gewohnte Sprache ist ein Produkt von Sprachwandel.

Das ist sie deshalb, weil neue Begriffe oder Redeweisen einer Sprachgemeinschaft eben nicht durch ein Regelwerk aufgezwungen werden, sondern ihren Ursprung in sich verändernden Verhältnissen, Überzeugungen oder Anforderungen haben. So wächst etwa mit dem Bewusstsein, dass Sprache verletzen oder ausgrenzen kann, die Notwendigkeit, diskriminierungsfreie Texte zu schreiben. Wie Sprache deshalb Diversität in vielerlei Hinsicht abbilden kann und muss, zeige ich in meinem Beitrag zum neuen Leitfaden-Kapitel anhand verschiedener Umsetzungsvorschläge und Beispiele.

Dazu zählt das Gendern als eines der meistdiskutierten Sprachwandelphänomene unserer Gegenwart. Die Gründe und verschiedenen Möglichkeiten, auf sprachlicher Ebene an Geschlechtergerechtigkeit mitzuwirken, thematisiert Angelika Pohl. Dabei beantwortet sie auch die Frage, was sich hinter dem vermeintlich geläufigen Begriff Gendern verbirgt und warum die Entwicklung – auch angesichts ihrer Offenheit – uns Lektor*innen nachhaltig aufmerken lassen sollte.

Auch muss uns bewusst sein, dass sich die geschlechtliche Identität vieler Menschen nicht durch die binären Kategorien männlich und weiblich abbilden lässt. Um Geschlechtsidentität angemessen zu repräsentieren – so also, dass das Sprechen über Geschlecht der gesellschaftlichen Realität entspricht –, brauchen wir neue Zuschreibungen. Als solche entwickeln sich, wie Noah Stoffers zeigt, in einem lebendigen (und übrigens gar nicht so neuen) Diskurs gegenwärtig die Neopronomen. Noah erläutert die aktuell geläufigsten Pronomen und deren Gebrauch.

Dieser verlangt uns Lektor*innen – wie alle Phänomene des Sprachwandels – Offenheit und Sensibilität ab. Dennoch können wir selbstverständlich nicht in allen Debatten up to date sein oder mögliche Diskriminierungen im Text immer als solche erkennen. Xenia Wucherer schlägt deshalb vor, unseren Autor*innen bei bestimmten Themen die Unterstützung durch ein Sensitivity Reading ans Herz zu legen. Sensitivity Reader*innen verfügen in der Regel über persönliche Erfahrungen oder eine besondere Expertise in Bezug auf die in Frage stehende Identität oder Betroffenheit. Sie stellen sicher, dass die Darstellung von bestimmten Gruppen oder Identitäten in einem Werk angemessen, respektvoll und authentisch ist.

Dass Lektor*innen gerade auch Kinder- und Jugendbücher sensibel lesen und bearbeiten, um für eine angemessene Repräsentation zu sorgen und Vielfalt abzubilden, steht bei Regina Jooß nicht nur auf dem Wunschzettel. Sie setzt sich als Lektorin, Übersetzerin und als Mitglied verschiedener Gremien aktiv dafür ein, dass Diversität Eingang in Texte für Kinder und Jugendliche findet. Uns als ihren Kolleg*innen gibt sie unter anderem den Rat, hierbei vor allem auf Normalität zu achten, das Anderssein nicht als Besonderssein zu betonen.

Ausdrücklich geht es dabei – wie überhaupt im Umgang mit den Phänomenen des Sprachwandels – nicht um Perfektion. Die ist auch gar nicht möglich, eben weil sich der Wandel fortlaufend vollzieht und ein offener Prozess ist. Das gilt auch fürs Sachbuchlektorat, stellt Melina Wandler fest, betont aber, dass ihrer Erfahrung nach gerade hier bei vielen Autor*innen noch die Haltung existiert, mit dem generischen Maskulinum seien doch alle mitgemeint. Dabei gibt es, wie Melina zeigt, in Sachtexten zahlreiche Möglichkeiten für geschlechtssensible Formulierungen, die den Text bereichern.

Auf genau diese Kernaussage lässt sich das Kapitel zum Sprachwandel im neuen „Leitfaden Freies Lektorat“ meiner Meinung nach herunterbrechen: Wenn wir dem Sprachwandel offen gegenüberstehen, ihn als Bereicherung begreifen und seine Phänomene wachsam verfolgen, können wir diese Haltung auch unseren Autor*innen vermitteln und sie dabei unterstützen, zeitgemäße, diskriminierungssensible und glaubhafte Texte zu schreiben, die eine breite Leser*innenschaft ansprechen. Im VFLL haben wir die allerbesten Bedingungen, uns darüber auszutauschen. Was wir in der AG Sprachwandel beim Schreiben unserer Beiträge im Kleinen getan haben, können wir im Verband im Großen tun: Individuelle Erfahrungen und Expertisen vor der geteilten Liebe zur Sprache zusammenbringen und den Sprachwandel aufmerksam, sensibel und produktiv begleiten.

Text: Dr. Wenke Klingbeil-Döring
Beitragsbild: privat


Leitfaden Freies Lektorat,
12., neu bearbeitete und erweiterte Auflage 2023

Hardcover: ISBN 978-3-95903-021-2, 320 Seiten, Preis: 44,00 Euro.
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E-Book: ISBN 978-3-95903-113-4, Format: EPUB ohne DRM,
Preis: 24,99 Euro für Mitglieder und Nichtmitglieder.

Inhaltsverzeichnis, Leseprobe und Bestellinformationen


Dr. Wenke Klingbeil-Dörings Website und Profil im VFLL-Verzeichnis


 

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