Die Anwendungsmöglichkeiten künstlicher Intelligenz standen im Fokus des diesjährigen DigiCamps, ausgerichtet vom Börsenverein. VFLL-Mitglied Dr. Sibylle Strobel hat an der Online-Veranstaltung teilgenommen und schildert ihre Eindrücke im Blog.
Wie wichtig muss ein Thema sein, dass der Buchmensch den Freitagnachmittag drangibt, anstatt die Arbeitswoche bei endlich mal wieder strahlend blauem Himmel früher zu beenden? Fast hundert Personen ließen sich jedenfalls anlocken vom Titel: „So gut ist künstliche Intelligenz heute.“ Sie wollten sich auf dem dreistündigen virtuellen Treffen des Börsenvereins über KI in der Verlagsbranche informieren.
Früher hieß die Veranstaltung des – Vorsicht, jetzt wird’s sperrig! – Bayerischen Landesverbands im Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. nicht Digi-, sondern eBookCamp. Doch lässt sich die digitale Zukunft der Buchbranche schon lange nicht mehr auf E-Books reduzieren. Das diesjährige Thema KI ist in aller Munde, und so manchen Autoren, Lektorinnen, Übersetzern, Korrekturleserinnen wird es ein wenig blümerant: Werde ich abgehängt? Werde ich gar ersetzt?
Höchste Zeit zu gucken, wo die Branche steht.
Was leistet künstliche Intelligenz in der Verlagsbranche?
Offenbar ist in einem Feld der Nutzen unbestreitbar: bei der Prozessoptimierung. Zwei DigiCamp-Referenten stellten jedenfalls überzeugend dar, dass KI das Planungsrisiko zu reduzieren hilft. Ich verknappe das jetzt sehr: Die Maschine verhält sich anders als der Mensch. Sie liegt bei Prognosen von Erst- und Nachauflagen näher an der Realität. Das gilt nicht für jeden einzelnen Titel, aber insgesamt. Menschen seien optimistischer, wenn sie eine Absatzprognose machen; der reale Absatz liege deutlich näher bei der KI-Schätzung.
Mir erschienen die Argumente dafür schlüssig: Die Maschine ist unbestechlich, unterliegt keiner Tagesform, hat keine Angst vor der Chefin und kann besser mit der Masse an Daten umgehen, die da zum Teil involviert sind. Wenn die Maschine bei kleinteiligen Prozessen vorarbeitet, dann erleichtert sie dem Menschen Entscheidungen und verbessert Einschätzungen. Beispielsweise sei man im Verlag derzeit wirklich froh, wenn man dank guter Auflagenschätzung den Papierbedarf korrekt kalkulieren könne. Auch in der Praxis des Vertriebs ist KI längst angekommen. Ein Beispiel war die Ermittlung von Lesemotiven, um den Wünschen der Kundinnen und Kunden auf die Spur zu kommen.
Für mich als freie Lektorin war das auch mal wieder ein Einblick in die Sorgen und Nöte der Verlagsleute, wenngleich ich mich nicht primär deswegen für das DigiCamp registriert hatte.
Mensch-Maschine-Interaktion: Ohne den Menschen wird es (hoffentlich) auch in Zukunft nicht gehen
Für mich war eher die Session spannend, die sich mit Content befasste. Und da ich hauptsächlich im Bereich Wissenschaftslektorat und -kommunikation tätig bin, spitzte ich schon die Ohren, als Henning Schönenberger, Director Data Development bei Springer Nature, den Stand der Dinge und die eigene Haltung zu KI darlegte. Der Wissenschaftsverlag publizierte 2019 das erste maschinengenerierte Buch, eine strukturierte, automatisch erstellte Zusammenfassung aktueller Forschungsartikel aus der Physik. Derartige Neuzusammenstellungen von vorhandenen Daten werden aktuell allesamt noch von einem Herausgeber oder einer Herausgeberin kuratiert. Eine klare Ansage des Referenten lautete: „Wir wollen keine Autorinnen und Autoren ersetzen, wir wollen Support liefern.“ Dem schlossen sich ausnahmslos alle DigiCamp-Aktiven an und bestätigten, dass es selbst bei einfachen kreativen Aufgaben noch ziemlich hapere bei der künstlichen Intelligenz.
Doch steht KI gerade erst am Anfang. In absehbarer Zeit werde generative Texterstellung aus Datenbanken heraus „komplett und von Null an“ möglich. Es ist leicht vorstellbar: Entwickle Modelle für Storytelling und füttere die Maschine mit möglichst vielen präzisen Daten dazu, was die Leserschaft vermutlich will (siehe oben: KI-unterstützte Lesemotivforschung). Konkrete Daten wären beispielsweise: Fünf Drachen, erster Klimax auf Seite XY, drei Tote, Heldin spricht Dialekt etc. – zweifellos ist die Menge an benötigtem Datenfutter wirklich riesig. Wenn die Maschine das alles verdrückt hat und die Regeln kennt, nach denen sie verdauen muss, wird da wohl ein lesbarer, schlüssiger Fantasy-Roman herauskommen. Die Regeln setzt sie aber nicht selbst. Die setzt der Mensch.
Wo sind die Grenzen der KI oder: Wo will die Verlagsbranche die Kontrolle behalten?
Das Fantasy-Roman-Beispiel verdeutlicht, dass der Mensch mit sehr präzisen Fragen und genauen eigenen Vorstellungen an die Maschine herantreten muss, sonst hilft KI gar nichts. Und: Will die Branche komplett maschinengenerierte Texte? Diese Frage wurde klar verneint, man sieht hier nicht zuletzt ethische Probleme: Was ist „echt“, was ist „künstlich“?
Das Urheberrecht kam auf dem DigiCamp zwar nur am Rande zur Sprache, aber alle haben es auf dem Schirm. Ich erinnere an der Stelle an Sandra Uschtrins Artikel in der „Autorenwelt“ vom 28.03.2020, wo sie fragt: „Was, wenn Firmen Romane verkaufen, die von Computern geschrieben werden, die man zuvor mit Tausenden von Werken von Autorinnen und Autoren gefüttert hat?“
Die Verlagsbranche ist laut DigiCamp gefordert, sich gut zu überlegen, was sie will, und dafür Sorge zu tragen, dass sie die Kontrolle behält über das, was geschieht. Der Appellcharakter dieses Teils der Veranstaltung war unübersehbar. Zieht euch warm an! Kümmert euch um KI, denn sie wird kommen – wenn nicht mit euch, dann ohne euch.
Und was geht das mein Lektorat an?
Diesen Appell nehme ich mir als freie Lektorin durchaus zu Herzen. Konkrete Anwendungen von KI sind kein Hexenwerk, das wurde auf dem DigiCamp deutlich. Zwar habe ich keinen Chef, aber ganz gewiss eine Tagesform. Ich bin mir sicher, dass KI über kurz oder lang eine bessere Satzkorrektur hinbekommt als jeder noch so gute Lektor oder jede noch so gute Lektorin. Hingegen habe ich herzlich wenig Sorge, dass KI meine Denkleistung im Fachlektorat, meine kommunikativen Skills und meine Fähigkeit, sprachliche Aussagen in den richtigen Kontext einzuordnen, ersetzen kann.
In welchen Bereichen kann mich KI aber unterstützen? Welcher Anteil meiner Arbeit besteht aus bloßen Daten, mit denen ich die Maschine füttern muss, damit ich meine eigentliche Kernleistung – das mitdenkende Lektorat und die Wissenschaftskommunikation – besser erbringen kann? Fragen über Fragen, die sich nur mit digitaler Kompetenz beantworten lassen.
Beitragsbild: (c) geralt / pixabay
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Buchtipp: Gerd Gigerenzer: Klick. Wie wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten und die richtigen Entscheidungen treffen, München 2021.
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