„Schon mal was von Solarpunk gehört?“ Sibylle Schütz hatte bis dato noch keine Ahnung, was das sein könnte, und hatte auch noch nie davon gehört oder gelesen. Bildungslücke? Für jene Lektor*innen, die sich schon in diesem Genre tummeln, wohl nicht. Für alle anderen wird die Lücke hiermit geschlossen. Durch das Interview mit Len Klapdor. Sie ist Autorin, Lektorin, Sensitivity Readerin, Theaterschaffende und hat auch einen Blog. Und sie ist obendrein VFLL-Mitglied. Im vergangenen Jahr war sie zu Besuch in der Regionalgruppe Rhein/Ruhr und ergänzte dort das vorhandene Wissen mit einem inhaltlichen Input zum Thema.
Was hat es mit Solarpunk auf sich?
Solarpunk ist gleichzeitig ein Subgenre der Science-Fiction, eine Bewegung und eine Ästhetik und daher nicht ganz einfach zu fassen, was seine Anfänge und Initiator:innen betrifft.
Der Kern des (Sub-)Genres sind hoffnungsvolle Zukunftsvisionen einer Gesellschaft, die ausschließlich erneuerbare Energien nutzt und generell im Einklang mit dem Ökosystem lebt. Hinzu kommen Themen wie soziale Gerechtigkeit und Inklusion, die eine wichtige Rolle spielen. Dabei werden bevorzugt sogenannte „Slice of life“-Geschichten erzählt, also eher Ausschnitte aus dem gewöhnlichen Alltag der Figuren anstatt, wie sonst in der Science-Fiction üblich, das große Epos um das Schicksal der Welt und/oder des Universums.
Seit wann gibt es dieses Genre?
Als erstes explizites Werk gilt eine Kurzgeschichten-Anthologie aus Brasilien aus dem Jahr 2012 mit dem Titel „Solarpunk – Histórias ecológicas e fantásticas em um mundo sustentável“, herausgegeben von Gerson Lodi-Ribeiro.
Schon zuvor gab es den Essay „Solarpunk: Notes toward a Manifesto“ von Adam Flynn, in dem es sinngemäß heißt, dass Solarpunk der Versuch ist, ein Konzept zu erschaffen, das Gemeinschaft stiftet. Diese Idee wiederum geht zurück auf einen Text des Science-Fiction-Autors Neil Stephenson, der 2011 in „Innovation Starvation“ über die Rolle von positiven, umsetzbaren Zukunftsvisionen bei der Realisation einer besseren Welt schrieb.
Darüber hinaus und parallel dazu gibt es einige einschlägige Tumblr-Accounts, die dezidiert der Entwicklung einer Solarpunk-Ästhetik gewidmet sind, besonders prominent ein Post von 2014 der Userin @missolivialouise, der die Ästhetik und Prinzipien einer Solarpunk-Bewegung beschreibt.
Wie bist du auf das Thema gekommen? Wann und wo hast du Solarpunk für dich entdeckt?
An sich war mir Solarpunk schon lange ein Begriff, da ich mich seit Jahrzehnten intensiv mit Science-Fiction und ihren mannigfaltigen Subgenres beschäftige. Den Ausschlag gaben dann aber meine Recherchen zum Thema Klimawandel ab ungefähr 2016, die ich für meinen Debütroman „The Hand That Feeds“ betrieb. Meine Auseinandersetzung mit den drohenden Gefahren und die gleichzeitige Erfahrung, dass in der Politik weder regional noch global genug getan wird, um die Folgen des menschengemachten Klimawandels einzudämmen, hat mich ziemlich deprimiert. Die Auseinandersetzung mit Solarpunk hat mir wieder Hoffnung gegeben. Ich teile die Grundidee: Wir brauchen diese Visionen, wir brauchen Ziele, auf die wir hinarbeiten können.
Mein damaliges Romanprojekt hat sich dann in eine andere Richtung entwickelt, viele Erkenntnisse aus dieser Zeit sind aber später in mein aktuelles Projekt „Lissas Brücke“ eingeflossen, das jetzt ganz explizit im Solarpunk-Genre angesiedelt ist und dieses mit einem Krimiplot verbindet, der auf einer übergeordneten Ebene fragt: Wie geht eine Gesellschaft, die sich auf so vielen Ebenen verbessert hat, mit (Gewalt-)Verbrechen um?
Du beschreibst dich selbst als weiße, autistische, queere Autorin. Wie drückt sich dein Autismus und deine Queerness allgemein im Alltag und im Besonderen beim Schreiben aus?
Puh, also darüber könnte ich auch ein ganzes Buch schreiben! Aber ich versuche es mal kurz zu halten: Beim Schreiben drückt sich beides insofern aus, als dass meine Figuren meistens auch queer und neurodivergent sind. Das passiert automatisch! Ich bin aber auch voll und ganz der Genre-Literatur verschrieben, deswegen geht es in meinem Schreiben in der Regel weniger um die spezifischen Probleme von Menschen wie mir in der realen Welt und eher um gesellschaftliche Fragen, die mit Queerness und Neurodivergenz bzw. Behinderung zusammenhängen. Ich mag Science-Fiction bzw. Phantastik, weil das Genre für mich wie ein Experimentierfeld funktioniert, auf dem ich verschiedene Gesellschaften entwerfen und dann schauen kann, was passiert, wenn ich an dieser oder jener Schraube drehe. Wie sieht eine Gesellschaft aus, in der heterosexuelle Monogamie nicht der Standard ist? Oder in der Neurodivergenz nicht als Behinderung gilt, sondern als besondere Begabung? Solche und ähnliche Fragen stelle ich mir auf die eine oder andere Weise in all meinen Geschichten.
In meinem Alltag kommt mein Autismus vor allem beim Thema Arbeit zum Tragen. Ich arbeite selbstständig und meist von zu Hause, weil es für meine Gesundheit wichtig ist, meine Zeit selbst einteilen und mein sensorisches Umfeld kontrollieren zu können. Außerdem bevorzuge ich es, allein zu arbeiten, da der soziale Umgang mit anderen Menschen mich schnell ermüdet.
In deinem Blog Neurowitch hast du einen interessanten Artikel über den Unterschied der Beurteilung von Autismus von Männern und von Frauen. Magst du uns das kurz schildern?
Danke! Die Diagnosekriterien, die bis heute noch sehr wirkmächtig sind, wurden anhand des Verhaltens weißer(1), männlicher Kinder erstellt. Damals gab es noch kein Bewusstsein dafür, dass Autismus sich je nach Geschlecht anders ausdrücken kann. Viele Mediziner:innen waren sogar der Meinung, Autismus sei ein rein männliches Phänomen, und Frauen, qua Geschlecht, könnten nicht auf dem Spektrum sein.
Inzwischen weiß man, dass autistische Menschen zwar viele Gemeinsamkeiten im Denken, in der Wahrnehmung und im Verhalten haben, dass es aber auch viele andere Faktoren gibt, die beeinflussen, wie der Autismus sich äußert. Einer dieser Faktoren ist die Sozialisierung: Da von Frauen in unserer Gesellschaft grundsätzlich ein ausgereifteres Sozialverhalten erwartet wird als von Männern, lernen viele autistische Frauen schon als kleine Kinder, zu maskieren, also ihre Symptome und ihre Bedürfnisse zu verstecken oder zu überspielen. Das hat Vorteile, ist aber auch extrem anstrengend und sorgt häufig dafür, dass autistische Frauen im Laufe ihres Lebens an Depressionen oder Angststörungen erkranken, da sie sich permanent überlasten. Außerdem führt es zu Fehldiagnosen und entsprechender falscher Behandlung, was die Probleme verstärkt.
Du hast schon mehrere Kurzgeschichten und auch ein Buch veröffentlicht. Schreibst du auf Englisch oder auf Deutsch oder in beiden Sprachen?
Ich schreibe in beiden Sprachen und übersetze meine Texte auch oft selbst, vor allem die Kurzgeschichten.
Worum geht es in deiner bereits veröffentlichten Kurzgeschichte?
In „Ihre Worte“ geht es um Lor, die eine beunruhigende Nachricht von ihrer besten Freundin Grace erhält und beschließt, Grace zu besuchen. Die Geschichte spielt allerdings in einer dystopischen Zukunft, in der Menschen sich in den Untergrund zurückziehen mussten, da die Welt von einer KI-gesteuerten Drohneneinheit, die sich selbstständig gemacht hat, heimgesucht wird. Der Weg zu Grace ist also gefährlich.
Und worum in deinem Roman?
In „The Hand That Feeds“ geht es um Aurora Vespucci, schwarzes Schaf der königlichen Familie, die ein Land namens Ithacan beherrscht. Aurora vermutet eine Verschwörung zwischen ihrer Tante, der Königin, und einer berüchtigten Serienmörderin, der auch Aurora fast zum Opfer gefallen wäre – durch die schicksalhafte Begegnung dreizehn Jahre zuvor hat sie ihren rechten Arm verloren. Sie erhält unerwartete Hilfe vom ehemaligen Soldaten Sadr, der mit der königlichen Familie seine eigene Rechnung offen hat.
Was ist dein Schwerpunkt? Schreiben oder lektorieren?
Beides! An sich ist es Schreiben, aber das Lektorieren schult mich auch in meiner Eigenschaft als Autorin bzw. umgekehrt. Das gehört für mich also zusammen.
Was hat es mit Horror Vacui auf sich?
Horror Vacui war ein kollektives Schreibprojekt, das ich zusammen mit Anna Kpok konzipiert und umgesetzt habe. Anna Kpok ist keine reale Person, sondern ein erfundener Name, den wir als Label für unsere Gruppe benutzen. Es ging darum, gemeinsam einen Text zu entwickeln, der grundsätzlich um feministische Themen und Fragen kreist, und diesen dann auch praktisch umzusetzen. Mit dem Center for Literature der Burg Hülshoff hatten wir eine tolle Kooperation, die einige intensive Schreibworkshops und schließlich auch die Präsentation unserer Ergebnisse ermöglicht hat.
Und wie kam es zur Gründung von Anna Kpok?
Anna Kpok hat sich gegründet, als wir noch im Studium waren (Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum). Durch ein gemeinsames praktisches Projekt 2009 hatte sich eine Gruppe gefunden, die weiter neben dem Studium praktische Projekte im Bereich Performance verwirklichen wollte. Vor allem aus praktischen Gründen musste diese Gruppe sich einen Namen geben, und daraus wurde dann Anna Kpok. Zwischen 2010 und 2022 habe ich viele Projekte mit Anna Kpok, aber auch eigene Regiearbeiten verwirklicht. Nach so vielen Jahren habe ich dann aber gemerkt, dass es mich wieder zum Schreiben zieht, und ich bin sozusagen „in Rente“ gegangen.
Gibt es noch etwas, was du uns mitteilen möchtest?
Meine erste Arbeit im Genre Solarpunk ist eigentlich eine englischsprachige Kurzgeschichte namens Atha’s Daughters, die dieses Jahr vom amerikanischen Solarpunk Magazine angenommen wurde. Leider gibt es noch kein Datum für die Veröffentlichung, aber davon ab kann ich allen Interessierten das Magazin sehr ans Herz legen!
(1) Noch ein Hinweis von mir [Anm. d. Red.: Len Klapdor]: Ich habe weiß jetzt immer kursiv gesetzt; das ist eine Praxis, die ich aus dem Sensitivity Reading kenne und gut finde, da sie markiert, dass Weiß-Sein ein komplexes Konzept ist und nicht (nur) eine Beschreibung einer Hautfarbe.
Interview: Sibylle Schütz
Korrektorat: Rebekka Münchmeyer
Beitragsbild: (c) jdstanley / pixabay
Mehr zum Thema Solarpunk:
Der im Interview genannte Titel von Gerson Lodi-Ribeiro liegt auch in der englischen Übersetzung vor:
Solarpunk: Ecological and Fantastical Stories in a Sustainable World, englische Übersetzung von Fabio Fernandes, World Weaver Press, 2018
Veröffentlichungen von Len Klapdor:
- Roman „The Hand That Feeds“, englisch, Asperwitch/Amazon Kindle, 2021.
- „Ihre Worte“, deutsch, Anthologie „Neuropunk – Perspektivwechsel“, hg. von Melanie Schneider und Saskia Dressler, Weltenruder Verlag, 2024.
- Atha’s Daughters, englisch, Solarpunk Magazine, Frühjahr 2025 (geplant).
Len Klapdors Website und Eintrag im VFLL-Lektoratsverzeichnis
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