Sütterlin entziffern

Angestaubte Sitzungsprotokolle in Sütterlin entziffern

VFLL-Kollegin Heidrun Bornemann aus der Regionalgruppe Niedersachsen hat sich als Hobby dem Kleingärtnern verschrieben. Im Zuge einer Recherche im Braunschweiger Stadtarchiv wurde ihr klar: Alte Dokumente sollen die Festschrift für das 85. Jubiläum des Kleingartenvereins, in dem sie Mitglied ist, bereichern. Wenn da bloß nicht die Sütterlinschrift wäre, die sie nicht lesen kann … Im Beitrag verrät Heidrun, wie sie dabei vorgegangen ist und welches Hilfsmittel sie dabei unterstützt hat, die Akten zu entziffern.

Von Heidrun Bornemann

Heidrun Bornemann, Autorin des Beitrags, vorm „Haus Adele“

Seit elf Jahren kleingärtnere ich. „Haus Adele“ nenne ich unser pistaziengrün gestrichenes Steinhaus liebevoll. Benannt nach einer Vorpächterin, die in den 1950ern die Vereinskantine bewirtschaftete. In unserem Gartenhauskeller, wo einst das Bier lagerte, leben heute Molche. Hat unsere Laube überhaupt eine Baugenehmigung? Im Braunschweiger Stadtarchiv sichtete ich Unterlagen, um die Frage zu klären.

2020 stand das 85. Jubiläum des Kleingärtnervereins Mutterkamp e. V. in Braunschweig-Riddagshausen an. Ich bot tatendränglerisch an, die Vereinsgeschichte zusammenzuführen – es existieren davon sechs Varianten von 1960 bis 2015. Mit einem frisch-jüngeren Blick will ich die Chronik pimpen. Ich begann, rührige Mitglieder der „Rentnerband“ und ehemalige Vorstandsmitglieder zu interviewen, um deren Erfahrungswissen zu sichern und Anekdoten zu sammeln. Die Coronapandemie bescherte mir einen großen Zeitpuffer.

Ein „herrlich gelegenes Gelände hinter dem Nußberg“ (Braunschweigische Landeszeitung, 18.03.1935)

Die historischen Hintergründe verlangen Fingerspitzengefühl, fesseln und ergreifen mich. Im Frühjahr 1935 ist der „Gartenverein Mutterkamp e. V.“ gegründet worden – ausgerechnet dort, also im damaligen Freistaat Braunschweig, wo die NSDAP im Januar 1924 erstmals in einem Landtag vertreten war. Damalige Akteure wollten sich persönlich, der Stadt und Region wichtige Rollen, Institutionen und Funktionen im NS-Staat zusichern und benötigten dafür Baugrund. 1934 gemeindeten sie Gliesmarode und Riddagshausen ein und ließen 1935 am östlichen Stadtrand ein Wohngebiet gehobeneren Anspruchs planen und errichten („Fliegerviertel“) – dort, wo Sintize und Sinti, Romnja und Roma lebten und sich die Parzellen der „alten Kolonie an der Heinrichstraße“ befanden. Der Mutterkampverein hat also einen Vorläufer, der in den 1910er- oder 1920er-Jahren gegründet worden sein muss (ein Forschungsdesiderat). Benachbart zum „Fliegerviertel“ entstand ab Frühjahr 1937 der monumentale Repräsentationsbau des „Luftgaukommandos“, von wo aus die gesamten Luftstreitkräfte Nord- und Westdeutschlands befehligt wurden.

Kleingärtnernde siedeln um „wie Pioniere auf dem Treck“ (Hans Bohnhorst, 2005)

Die „Braunschweigische Landeszeitung“ war damals das bedeutendste Presseorgan des Bürgertums, unabhängig von Staat und Parteien und in nationalsozialistisches Fahrwasser geraten: Die BLZ verlautbarte, dass die Stadtverwaltung an die Kleingärtnernden der Heinrichstraße Ersatzland verlost, nämlich „ein herrlich gelegenes Gelände hinter dem Nußberg“. Die sechs Hektar großen Wiesen dockten an Kleingartenkolonien an, die 1919 und 1921 an der Eisenbahn in Gliesmarode und Riddagshausen entstanden waren. Die Vereinschronik beschreibt die Umsiedlung bildhaft: „Mit Handwagen, Fahrradanhängern und Pferdewagen, wie Pioniere auf dem Treck, wurden Sträucher, Bäume und Laubenteile transportiert.“

Auf dem Nussberg wiederum, und das lässt die Zeit der Gründung des „Gartenvereins Mutterkamp e. V.“ im Frühjahr 1935 so spannend wie spannungsreich erscheinen, wurde im August 1935 eine von 400 geplanten Thingstätten eröffnet – heute zugewuchert „Hexenkessel“ genannt, ein Eldorado für BMX-Fahrer:innen. Diese Freilichtbühne durfte später nur noch „Weihestätte“ genannt werden. Sie war Schauplatz des Mitte der 1930er-Jahren scheiternden NS-Propagandainstruments „Thingspiele“. Film und Radio waren schlicht massenwirksamer als die Mischung aus Festspiel und Kundgebung einer „neuen Form des Theaters“ – so hatte der Anspruch des NS-Regimes gelautet.

Programm „Transkribus“ kann Sütterlin lesen – im Gegensatz zu mir

Im Herbst 2022 steckte mir eine Vorständin zwei nach schönem alten Papier duftende Kladden zu. Protokollbücher in Sütterlinschrift! Ein Traum einer Primärquelle im C4-Format. Enthalten sind Niederschriften (bis 1977 handschriftlich) zu den Jahresversammlungen und Vorstandstreffen ab 1935 bis 1979. Mein Engagement für die Festschrift „90 Jahre Kleingartenverein“ (möglicher neuer Zieltermin 2025) nahm wieder Fahrt auf.

Original des ersten Protokollbuchs des KGV für die Zeit von 1935 bis 1962, Desktopversion des Transkriptionsprogramms (rechter Bildschirm), zusammenfassende Datei der transkribierten Protokolle (linker Bildschirm), Foto: Heidrun Bornemann

Das Vorgehen: Ich verschickte das erste Protokollbuch (1935–1962) als versichertes Einschreiben und ließ die Seiten professionell und schonend (!) einscannen. Seitdem transkribiere ich mithilfe des öffentlichen KI-Modells „The German Giant I.“, das Texte ab dem 16. Jahrhundert in lateinischen Buchstaben und deutscher Kurrent-/Sütterlinschrift lesen kann. Angesichts des geringen Seitenumfangs kann ich „Transkribus“ kostenfrei nutzen. Die Uni Innsbruck entwickelt die „KI-gestützte Plattform für Texterkennung, Transkription und das Durchsuchen von historischen Dokumenten“ seit 2013. Heute handelt es sich um ein europäisch-genossenschaftliches Projekt.

Auf meinem rechten Bildschirm (siehe Foto) ist die Desktopversion von Transkribus zu sehen: eine Auflistung der eingespielten Scans der Protokollbuchseiten, rechts oben das eingescannte Protokollbuchoriginal, rechts unten das bearbeitbare und durchsuchbare Transkript.

Schon in den 1930er-Jahren mahnt der Vereinsvorstand (sich selbst und) seine Vereinsmitglieder: An die „Drittelnutzung“ denken!

Ich staune und amüsiere mich ein bisschen, als mir das Digitalisat diese Info ausspuckt: Selbst in wirtschaftlich-politisch problematischer Zeit muss noch zu wenig Nutzbepflanzung betrieben worden sein. Darf ich darin – angesichts des Kontextes – das Dauerthema aller heutigen Hobbykleingärtner:innen herauslesen? Nimmermüde versuchen, das Bundeskleingartengesetz zu erfüllen? Schließlich heißt es im heutigen Einzelpachtvertrag: „Der Anbau einseitiger Kulturen sowie die ausschließliche Nutzung als Ziergarten sind unzulässig. Ein Drittel der Gartenfläche muss mit gartenbaulichen Erzeugnissen bepflanzt werden. Die Rasenfläche darf nicht größer als 20 Prozent der Gesamtfläche des Gartens sein.“

In einem Protokoll von 1937 steht jedenfalls: „Es wird darauf hingewiesen, dass den Forderungen des Vierjahresplanes entsprechend die Anlage von Nur-Ziergärten nicht geduldet werden kann.“ (Jahresversammlung 08.03.1937, Protokollbuch I, S. 20, unterstrichen im Original) Selbst während der noch entbehrungsreicheren Zeit des Zweiten Weltkriegs scheint man daran erinnert haben zu wollen: „Die Gärten sind als Nutzgarten anzulegen. Rasenflächen und größere Zieranlagen müssen in dieser Zeit mehr verschwinden.“ (Jahresversammlung 01.06.1940, Protokollbuch I, S. 28)

„Leider ist das Frettchen eingegangen und ein neues nicht zu beschaffen.“ (1943, Protokollbuch I, S. 37)

Ich übertrage die Transkripte per Copy und Paste in eine Datei und bin fasziniert, sie flugs durchsuchen und Entwicklungen besser nachvollziehen zu können. Mir hilft eine fehlerpositive Haltung, da ich Kunsthistorikerin im Nebenfach bin. Die Abkürzung „Pg.“ bedeutet Parteigenosse. Demnach ist ein im Mai 1935 in den Vorstand gewählter Gartenfreund nach nur drei Monaten im Juli 1935 von einem anderen abgelöst worden, weil nur der Zweite NSDAP-Mitglied war?! (vgl. Jahresversammlung 16.07.1935, Protokollbuch I, S. 3) Kurzum, die Kleingartenvereinsprotokolle bilden das Phänomen der Gleichschaltung ab.

Was im Original unleserlich ist und auf dem Vereinsspielplatz angebaut werden soll, muss „Flachs“ heißen (vgl. Jahresversammlung 11.01.1936, Protokollbuch I, S. 13). Dies passt zur ab 1933 in Form organisierter „Spenden“ gewünschten „Förderung des deutschen Ölsaatenanbaus“.

Im Transkript bessere ich durchs automatisierte Übersetzen entstandene Tippfehler nach bestem Gewissen aus und recherchiere, woraufhin der Stoff für die Festschrift wie Wildkraut wuchert. (Ich plane, stattdessen einen Weblog auf der Gartenvereinswebsite zu beackern.) Ich erfreue mich am Zuwachs von Wissen: vom Begriff „Richtweg“ für „veraltend: abkürzender Fußweg“ bis zum „Frettieren mit Netzen“ für den Versuch, mithilfe einer abgerichteten Marderart den damals schon lästig-niedlichen Kaninchen beizukommen (vgl. Jahresversammlung 01.06.1940, Protokollbuch I, S. 29).

Mir verschließt sich bis heute, was „nur abesfinier.“ Brunnen sein sollen, die an „den bezeichneten Plätzen“ aufzustellen sind?! Sachdienliche Hinweise von Leser:innen des Beitrags sind ausdrücklich erwünscht! (vgl. Screenshot und Transkription; Jahresversammlung 17.05.1935, Protokollbuch I, S. 2)


Im Text zitierte Quellen:

Warnecke, Burchardt (2006): Der Braunschweiger Nußberg und seine Umgebung. Ein Stück Stadtgeschichte aus dem Osten der Stadt Braunschweig. 10. Aufl. Braunschweig: Appelhans.

Mittmann, Markus (2003): Bauen im Nationalsozialismus. Braunschweig, die „Deutsche Siedlerstadt“ und die „Mustersiedlung der Deutschen Arbeitsfront“ Braunschweig-Mascherode. Ursprung – Gestaltung – Analyse. Hameln: Niemeyer.

Kaiser, Klaus (1970): Braunschweiger Presse und Nationalsozialismus. Der Aufstieg der NSDAP im Lande Braunschweig im Spiegel der Braunschweiger Tageszeitungen 1930 bis 1933. Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek. Braunschweig: Waisenhaus-Buchdruckerei/-Verlag

Bohnhorst, Hans (2005): Geschichte des Kleingartenvereins. In: Festschrift zum 70. Gründungsjubiläum des Kleingärtnervereins Mutterkamp e. V.

Stubenvoll, Bernhard (1987): Das Raumordnungsgeschehen im Großraum Braunschweig zwischen 1933 und 1945. Braunschweigs Raumordnungsziele in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden nationalsozialistischen Machteliten. Braunschweig: Stadt Braunschweig. Amt für Statistik und Stadtforschung.

Hemmer, Richard und Meßner, Daniel (2018): Die NS-Thingbewegung – Thingstätten und Thingspiele. In: Geschichten aus der Geschichte / GAG119. Podcast. <https://audio.podigee-cdn.net/543305-m-5ab8572c0e63fc1b28b1427ad9e70e6f.mp3?source=feed> [25.09.2023]

Landesverband Braunschweig der Gartenfreunde e. V. (2020): Einzelpachtvertrag über einen Kleingarten (Stadtbezirke BS) Ausgabe 2020. Online: https://www.kgv-gaensekamp.de/images/kgv_documents/Einzelpachtvertrag_2020_Stadbezirke_BS.pdf [03.10.2023]


Text: Heidrun Bornemann
Beitragsbild: Abgleich der mithilfe von „Transkribus“ (Desktopversion rechts) aus Sütterlinschrift übertragenen Vereinsprotokolle, Foto: Heidrun Bornemann


Weiterführende Links:
Zur Plattform Transkribus
Der deutsche Riese I.


Heidrun Bornemanns Website und Profil im VFLL-Verzeichnis


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„Einen normalen Arbeitsalltag gibt es – zum Glück – nicht“ (2023)
„Ich wollte mich nach Lust und Laune weiterbilden“ (2022)
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