Symbolbild Sensitivity Reading / Gender Diversity

„Sensitivity Reading ist eine Art spezialisiertes Lektorat“

Über das Thema Sensitivity Reading wird seit ein paar Monaten intensiv und manchmal nicht ganz fair in den Medien gestritten. VFLL-Kollege Noah Stoffers hat sich im Lektorat aufs Sensitivity Reading spezialisiert. Was es damit auf sich hat, wie seine Erfahrungen damit sind und weshalb er sich darauf spezialisiert hat, erläutert er in diesem Interview.

Sensitivity Reading ist zwar zurzeit in fast aller Munde, doch die wenigsten wissen wirklich, was genau darunter zu verstehen ist. Kannst du uns bitte aufklären?

Bei einem Sensitivity Reading wird die Darstellung von Marginalisierten inhaltlich und stilistisch geprüft. Um schädliche Klischees aufzuspüren, wie zum Beispiel den lustigen, dicken „Sidekick“ oder den Kleinkriminellen mit Migrationshintergrund. Und um unsensible Formulierungen zu vermeiden, zum Beispiel bei der Beschreibung von Hautfarben. Oder Redewendungen wie die, eine Person sei „an ihren Rollstuhl gefesselt“, obwohl dieser ein Mittel zur Teilhabe ist. Sensitivity Reading ist eine Art spezialisiertes Lektorat, das Autor*innen hilft, die Aussage ihres Textes in Bezug auf die dargestellte Minderheit zu hinterfragen.

Welche Bereiche umfassen ein Sensitivity Reading?

Es gibt verschiedene Bereiche, zum Beispiel eine Reihe von Religionen, Kulturen und Ethnien, über Geschlechtsidentitäten und sexuelle oder romantische Ausrichtungen bis hin zu verschiedenen Behinderungen oder unterschiedlichen Körperformen. In der Regel geht es um Themen und Figuren, die nicht dem entsprechen, was wir als gesellschaftliche Norm wahrnehmen.

Das ist ziemlich umfassend. Ist es denn so, dass sich Lektor*innen auf jeweils ein oder zwei Gebiete spezialisieren?

Ja, meistens spezialisieren sich Sensitivity Reader auf einige wenige Bereiche, in denen sie über eigene Erfahrungen verfügen. Das allein reicht noch nicht aus, sensibilisiert aber für die Thematik. Wenn ich zum Beispiel regelmäßig Fragen zu meiner Transgeschlechtlichkeit beantworte, mich mit anderen trans Personen (1) austausche und immer wieder Alltagsdiskriminierung erlebe, dann bringe ich eine andere Perspektive mit als jemand, die oder der all diese Erfahrungen nie gemacht hat.

Wie wird man zum*zur Sensitivity Reader*in? Durch Fortbildungen und Workshops?

VFLL-Kollege Noah Stoffers hat sich im Lektorat aufs Sensitivity Reading spezialisiert

Auch wenn man Fortbildungen und Workshops besucht, dürfte es schwierig sein, damit eine Marginalisierungserfahrung komplett abzubilden. Es gibt Einführungsseminare zum Sensitivity Reading und Angebote zu verschiedenen Marginalisierungen, genau wie Sachbücher, Artikel und Blogbeiträge. Am wertvollsten finde ich allerdings den Austausch mit (anderen) Marginalisierten und die Recherche zur jeweiligen Darstellung in den Medien. Wie wurden zum Beispiel schwule Figuren im Laufe der letzten hundert Jahre abgebildet? Und wie lesbische? Da gibt es wiederkehrende Muster, die sich bis heute hartnäckig halten. Es geht also einerseits um eigene Erfahrungen, andererseits um selbstständige Fortbildung, Recherche und um die Debatten innerhalb der jeweiligen Gemeinschaften, denn gerade die entwickeln sich sehr schnell.

Die Diskussionen über Sensitivity Reading laufen zum Teil recht kontrovers ab. Was meinst du ist der dahinterliegende Grund dafür?

Hauptsächlich sind es Vorurteile, denn in der Praxis halten diese Befürchtungen der Überprüfung nicht stand. Weder kann ich Zensur üben, noch versuche ich es. Genau wie in einem klassischen Lektorat hinterfrage ich bestimmte Motive im Text und biete meiner Kundschaft Hintergrundinformationen an. Meistens geht das mit einem Vorschlag einher, wie das Klischee aufgebrochen werden könnte oder welches Detail für mehr Authentizität sorgen würde. Es geht also nicht um Verbote, sondern um den Kontext. Und es ist ein Angebot, das immer Zielgruppe, Medium und Genre mitdenkt. Natürlich bleibt es am Ende den Autor*innen überlassen, was sie daraus machen.

Welches sind für dich die Hauptargumente für Sensitivity Reading?

Die meisten Medienschaffenden bilden Diversität ab, weil sie ihnen ein Anliegen ist. Weil sie zeigen wollen, wie vielfältig unsere Gesellschaft längst ist und weil sie Menschen eine gute Repräsentation schaffen wollen. Gerade für diejenigen, die sie bisher eher nicht bekommen haben. Wenn man dabei den eigenen Erfahrungshorizont verlässt, kann das ein Stück weit durch gründliche Recherche aufgefangen werden. Aber ein gutes Sensitivity Reading geht tiefer und fängt mehr auf. Ähnlich wie ein Lektorat bringt es eine erfahrene Perspektive von außen mit ein. Das sorgt für realistischere, glaubhaftere Darstellungen und bessere Repräsentation. Und es erschließt ein größeres Publikum, weil es Menschen mitdenkt, die bisher zu wenig und zu klischeehaft abgebildet werden.

Was kann Sensitivity Reading nicht leisten?

Absolute Sicherheit geben. Gerade weil die Debatten sich sehr schnell entwickeln, werden wir immer wieder von ihnen überholt. Und natürlich kann keine Person alle Erfahrungen abdecken. Genauso wie verschiedene Lektor*innen denselben Text immer leicht unterschiedlich bewerten werden, wird auch ein Sensitivity Reading von zwei verschiedenen Personen nie identisch sein. Diese Form von Gewissheit gibt es nicht und vielleicht ist das ganz beruhigend.

Wie läuft ein Sensitivity Reading ab?

Manchmal werde ich vorab für eine Beratung gebucht. In diesem Fall diskutiere ich ein Exposé und beantworte Fragen. Dann wieder bekomme ich paar Kapitel oder ein ganzes Manuskript für ein Sensitivity Reading geschickt. Dabei arbeite ich mit Kommentaren am Rand und stehe hinterher für Fragen zur Verfügung. Es lohnt sich, genug Zeit einzuplanen, denn diejenigen, die das Sensitivity Reading anbieten, können meist nur eine überschaubare Anzahl von Projekten betreuen. Und da es ein Arbeitsaufwand ist, der Expertise verlangt, sollte er auch angemessen vergütet werden.

Bekommst du viele Anfragen fürs Sensitivity Reading?

Das ist sehr unterschiedlich. Bisweilen mehrere eilige auf einen Schlag, manchmal eine Weile gar keine. Oft direkt von den Autor*innen, aber inzwischen immer öfter auch von Verlagen. Eine Filmproduktion war auch schon dabei. Vergleichbares höre ich von anderen Kolleg*innen. Das führt dazu, dass die meisten nicht allein davon leben. Ich zum Beispiel arbeite hauptberuflich im freien Lektorat und biete das Sensitivity Reading als Spezialisierung an.

Was wünscht du dir für den Umgang (der Medien) mit dem Sensitivity Reading?

Die Anerkennung der Tatsache, dass es in erster Linie eine Dienstleistung ist, die aus einer Nachfrage heraus entstanden ist. Genau wie bei anderen Dienstleistungen wird niemand gezwungen, sie in Anspruch zu nehmen. Die Bestsellerlisten zeigen eindrucksvoll, dass der Erfolg eines Buches nicht damit steht und fällt. Es bleibt also eine persönliche Entscheidung und vielleicht noch eine Frage des Schwerpunkts. Wenn das anerkannt werden würde, könnten wir auf die sachliche Ebene der Diskussion zurückkehren. Um zum Beispiel darüber zu sprechen, wann ein Sensitivity Reading sinnvoll ist. Oder welche Alternativen es gibt. Und warum es hoffentlich eines Tages gar nicht mehr nötig sein wird.

(1) Anm. der Redaktion: Die Schreibweise Transperson im Duden gilt als überholt. Trans wird inzwischen als indeklinables Adjektiv verwendet.

Interview: Sibylle Schütz
Beitragsbild: (c) geralt / pixabay


Noah Stoffers Website


Mehr Infos zum Thema Sensitivity Reading:

Interview auf radioeins mit Victoria Linnea von der Plattform sensitivity-reading (ab Minute 32’58 bis 40’30)


VFLL-Kolleg*innen, die Sensitivity Reading als Dienstleistung anbieten, sind über das Lektoratsverzeichnis (mit Stichwort „Sensitivity Reading” suchen) zu finden.


Mehr zum Thema im Blog:
Divers sind auch Vermögen und Einkommen … (2023)
„Mit welcher Literatur kann ich unterschiedliche Menschen erreichen?“ (2022)

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