„Mit welcher Literatur kann ich unterschiedliche Menschen erreichen?“

Sarah Lutzemann eröffnete 2021 die Diversity-Buchhandlung kohsie in Halle (Saale), um weibliche und diverse Autor*innen sichtbarer zu machen. Damit greift sie nicht nur einen aktuellen Diskurs unserer Gesellschaft auf, sondern aktiv in diesen Diskurs ein. Auf der Fachtagung Freies Lektorat im September diskutiert sie auf dem Podium über „Texte für die Jetztzeit“ mit. Constanze Wirsing, Sprecherin der Regionalgruppe Leipzig und Mitglied des Orgateams der diesjährigen VFLL-Fachtagung, hat vorab mit Sarah Lutzemann über Identitäten, Repräsentation und Bücher für die Jetztzeit gesprochen.

Von Constanze Wirsing

Liebe Sarah, deine Buchhandlung hat einen spezifischen Schwerpunkt, den du auf der kohsie-Internetseite auch ganz deutlich machst, zum Beispiel indem unter dem Motto „representation matters“ die Identitäten der vertretenen Autor*innen in Bezug auf Race, Gender und Herkunft grafisch dargestellt sind. Warum ist Repräsentation denn so wichtig?

Repräsentation ist wichtig, um Perspektiven aufzuzeigen, die sonst eher unbeachtet bleiben. Wenn wir eine bessere Welt für alle schaffen wollen, müssen wir Empathie entwickeln, auch und vor allem für Menschen, deren Lebensrealität sich von unserer eigenen unterscheidet. Das geht nur, wenn wir andere Perspektiven kennenlernen, und Literatur ist dafür großartig geeignet. Dafür muss diesen Stimmen aber Raum gegeben werden, um sie sichtbar zu machen, um ihnen Gehör zu verschaffen.

Außerdem zeigt Repräsentation Chancen auf, erweitert die Bandbreite des Möglichen und schafft Teilhabe. Repräsentation in Form von Sprache, Schrift und Vorbildern startet einen Diskurs und ist oft der erste Schritt für positive Veränderungen auch an anderer Stelle.

Teilhabe durch Repräsentation und Empathie für andere Lebensrealitäten klingen nach guten Vorsätzen für die Gesellschaft. Ich frage mich allerdings häufig, wie sich das am besten vermitteln lässt. In deiner Buchhandlung findet sich natürlich Sachliteratur, die zum Beispiel die Themen Race und Gender eher trocken aufarbeitet, und genauso Belletristik, die damit eher spielerisch umgeht. Welche ist deiner Meinung nach die wichtigere Sparte, um dein Anliegen an die Menschen zu bringen?

Ich finde, darauf gibt es keine pauschale Antwort. Die Frage ist: Mit welcher Literatur kann ich unterschiedliche Menschen erreichen? Manche Leser*innen schätzen Sachbücher mit klaren Daten und Fakten, andere finden über Belletristik leichter Zugang zu neuen Themen, wieder andere schwärmen für Lyrik oder Graphic Novels. Das Gute ist, zu jedem Thema gibt es mittlerweile Literatur in den unterschiedlichsten Genres. Anstatt eine Sparte zu präferieren, finde ich es wichtiger, und persönlich auch spannender, umfassend zu lesen und verschiedene Genres abzuwechseln, um so Themen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten.

Eine absolute Empfehlung von meiner Seite aus ist, schon in der Kindheit mit diverser Literatur zu beginnen. Kinderbücher zu wählen, die Lebenssituationen zeigen, die in der Realität des Kindes nicht vorkommen und diese Themen dann gegebenenfalls auch gemeinsam zu besprechen.

Kinderbücher hatte ich bezüglich dieser Thematiken noch gar nicht in Betracht gezogen, um ehrlich zu sein, bis ich bei dir im Laden einige lesenswerte gefunden habe. Wie beziehungsweise wo stößt du überhaupt auf die Bücher, die du in dein Sortiment nimmst? Und wonach wählst du sie aus?

Ich finde Bücher über verschiedene Quellen. Klar gehört es auch dazu, Verlagsprogramme zu lesen und darüber Bücher zu finden. Aber eine wichtige Quelle ist für mich das Internet, vor allem die sozialen Netzwerke. Hier lese ich Beiträge von Buchblogger*innen, schaue mir Empfehlungen von anderen Buchhandlungen an, etwa „Black Owned Bookstores“ aus den USA oder dem karibischen Raum. Natürlich suche ich oft auch gezielt nach Autor*innen oder Literatur, wenn ich feststelle, dass bei uns im Sortiment noch Lücken bestehen.

Ich achte bei allen Büchern, die in unser Sortiment wandern, darauf, dass Diskriminierung nicht unreflektiert reproduziert wird. Außerdem checke ich den Hintergrund der Autor*innen: Wo verorten sie sich politisch, welche Werte vertreten sie, wie äußern sie sich öffentlich etc.?

Um hier das Thema der Podiumsdiskussion auf der VFLL-Fachtagung anzuschneiden: Inwieweit sind das dann auch Texte für die Jetztzeit? Was glaubst du, welche Geschichten unsere Gesellschaft heutzutage überhaupt braucht?

Unsere Gesellschaft braucht die Geschichten derer, die am Rand stehen, die nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft sind. Nur wenn wir verstehen, was diese Menschen an den Rand treibt, können wir Lösungen finden, um den Raum zu erweitern und eine bessere Gesellschaft für alle zu schaffen. Wir brauchen Geschichten, die unsere Glaubenssätze auf die Probe stellen, unser Weltbild erschüttern und nicht zuletzt unseren persönlichen Horizont erweitern.

Und jetzt ganz platt gefragt: Was liest du aktuell, was ist also dein persönliches Buch für die Jetztzeit?

Ich lese nicht nur Literatur, die für die Jetztzeit super relevant ist, sondern sehr breit gefächert und oft auch mal vermeintlich „leichte“ Literatur, Sommerromane, Lovestorys, Krimis etc. Einfach weil diese Bücher ja auch nachgefragt werden von Kund*innen, um einfach mal abzuschalten, und ich gerne Bücher empfehle, die ich auch selbst gelesen habe. Die haben meist trotzdem mehr Tiefe als klassische Mainstream-Literatur, aber sind eben nicht immer weltverändernd im großen Stil. Aktuell lese ich „White is for Witching“ von Helen Oyeyemi, ein schon etwas älterer Horrorthriller der nigerianisch-britischen Autorin, der mich vor allem durch seine subtil schaurige Atmosphäre begeistert. Davor habe ich „Ravna, die Tote in den Nachtbergen“ von Elisabeth Herrmann gelesen. Das ist der zweite Band der „Ravna-Reihe“ der Autorin, in der eine samische Frau aus Finnland die Hauptrolle spielt. Elisabeth Herrmann hat für diese Romane mit Menschen der samischen Kultur zusammengearbeitet und ein authentisches Bild der modernen Lebensweise der Samen kreiert, ohne in kulturelle Aneignung zu verfallen.

Außerdem ist mein großer Tipp „Why we matter“ von Emilia Roig, ein fantastisches Buch. Es beschäftigt sich mit den drei großen Unterdrückungsmechanismen unserer Zeit: Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus. Darin wird nicht nur die Thematik der Intersektionalität erklärt, sondern auch beschrieben, warum Empathie wichtig für die Veränderung der Gesellschaft ist.

Constanze Wirsing ist Sprecherin der Leipziger VFLL-Regionalgruppe und führte das Interview mit Sarah Lutzemann

Danke, liebe Sarah, für das aufschlussreiche Gespräch und die interessanten Literaturempfehlungen!

Interview: Constanze Wirsing

Beitragsbild (groß): © Sarah Lutzmann / Foto: David Köster
Foto (Porträt): © Constanze Wirsing / privat


Die kohsie Diversity Buchhandlung von Sarah Lutzemann befindet sich in Halle, in der Kleinen Marktstraße 7.

Zur kohsie Website


Weitere Infos zur Fachtagung Freies Lektorat 2022

Die Fachtagung Freies Lektorat findet vom Freitag, 16. September bis Sonntag, 18. September 2022 in Halle statt. Die Anmeldung zur Fachtagung ist ab sofort online möglich. Anmeldeschluss ist der 14. August 2022.

Zum Programm Fachtagung Freies Lektorat 2022 in Halle


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