„Man stelle sich für einen Moment vor, wir hätten keine Bücher“

Sie ist Präsidentin des European Writers’ Council, Mitglied im Verwaltungsrat der VG Wort, Gründerin des Netzwerks Autorenrechte und war unter anderem Beauftragte des Women Writers’ Commitee des PEN-Zentrums Deutschland. Aktuell macht sie sich mit der Initiative #FreeAllWords für Autor*innen aus der Ukraine und Belarus stark. Passend zu ihrem vielseitigen politischen Engagement eröffnet Nina George die diesjährige Fachtagung Freies Lektorat in Halle (Saale) mit einem Vortrag zur (Ohn-)Macht der Wörter und diskutiert im Anschluss über „Texte für die Jetztzeit“. Constanze Wirsing, Sprecherin der Regionalgruppe Leipzig und Mitglied des Orgateams der VFLL-Fachtagung, hat vorab mit Nina George darüber gesprochen, welche Verantwortung der einzelne Mensch hat und was Bücher bewirken können. Die Fachtagung Freies Lektorat findet vom Freitag, 16. bis Sonntag, 18. September 2022 in Halle (Saale) statt. Die Anmeldung zur Fachtagung ist ab sofort online möglich. Anmeldeschluss ist der 14. August 2022.

Von Constanze Wirsing

Liebe Nina, ein Satz aus deinem Internetlogbuch ist mir besonders aufgefallen. Du schreibst in deinem Rückblick auf das Jahr 2020: „Wir müssen die Kinder und Jugendlichen, mehr sogar die ganze Gesellschaft, dazu erziehen, nicht mehr nur Verbraucher oder Nutzer oder Steuerzahler:innen zu sein – sondern Bürgerinnen und Bürger.“ (Quelle http://www.ninageorge.de/?page=logbuch) Was heißt es konkret für dich, Bürgerinnen oder Bürger zu sein?

Bürgerinnen und Bürger haben Rechte sowie Pflichten und leben in einem sozialen Miteinander, von dem sie gleichermaßen profitieren, als dass sie auch etwas hineingeben. Ihre Handlungen, Aktivitäten – wie sie einkaufen, sich ernähren, wählen, kommunizieren – sind einerseits immer Reaktionen auf das Umfeld, andererseits prägen sie auch das Umfeld. In Afrika gibt es die Philosophie „Ubuntu“: Ich bin, weil du bist. Es ist das Bewusstsein, Teil eines Wir zu sein, die Erkenntnis, dass alle individuellen Handlungen auf die Gemeinschaft Einfluss nehmen – und damit auf mich selbst eines Tages zurückfallen. Einfaches Beispiel: Wer immer bei Amazon bestellt und sich zehn Jahre später wundert, warum mehr und mehr Geschäfte seiner oder ihrer Innenstadt schließen, ist sich seines und ihres individuellen Einflusses auf das eigene Lebensumfeld nicht bewusst.

Der Begriff „Verbraucherinnen“ indes spiegelt diesen Mangel an Bewusstsein: „Verbraucher“ oder „Nutzerinnen“ werden als „Konsumierende“ marginalisiert und instrumentalisiert, als ob nur die Kaufkraft, die Steuerzahlung oder ihre Vorlieben für Apps und Produkte entscheidend für ihre Existenzberechtigung und Meinung sei – und als ob ihre Handlungen keinen Einfluss auf ihr eigenes Leben hätten. Das ist eine Herabstufung ihres komplexen Seins einerseits, andererseits eine politische Waffe: Wenn zwecks „Verbraucherschutz“ an Buchpreisen herumgemäkelt oder das Urheberrecht weiter geschwächt wird, um „Nutzer“ zu stärken, dann wird dabei suggeriert, es habe keinen negativen Einfluss auf ihr Umfeld, wenn den einen etwas genommen und den anderen etwas gegeben wird. Dabei sind Urheberrechte in erster Linie Bürgerrechte, ein Recht für alle, und Buchpreise sichern Vielfalt und Pluralismus und sind im weltweiten Vergleich bei uns zudem eher niedrig. Würde man Menschen fragen: Was hielten Sie davon, wenn Bücher zwar billig sind, sich aber nur noch reiche weiße Eliten leisten können, zu schreiben? Oder: Was hielten Sie davon, wenn Bücher zwar umsonst ausleihbar, aber nur noch Mainstreamware sind? Dann würden die Meinungen sicher anders ausfallen, als wenn man die Konsequenzen von Regulierungen nicht benennt.

Als Bürgerin frage ich mich immer: In welcher Welt will ich leben? In einer, die auf Kosten anderer wirtschaftet? In einer, in denen Konsumbequemlichkeit das Maß der Entscheidung ist? Ich bin mehr als mein Kontostand, und es kommt mir auf andere Werte in einer Gesellschaft an, in der ich mit Glück noch lange leben werde; Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Parität, Wahlfreiheit, Debattenräume, Berührungskraft, Empathie, Katharsis.

Unsere Fachtagung steht ja unter dem Motto „Vom Lesen und Lernen“. Inwieweit glaubst du denn, dass das Lesen von Büchern für die von dir angesprochene Erziehung der Gesellschaft notwendig ist?

Mir missfällt das Wort Erziehung im Zusammenhang mit Lesen. Bücher sind eine Einladung ins Freie, aber das allzu Menschliche hat uns wiederum gelehrt, dass zu viel frische, freie Luft nicht jedem und jeder behagt … grundsätzlich ist lesen können und das geübte Lesen von Büchern die Grundlage, um komplexe Themen zu verstehen, um andere Lebensweisen kennenzulernen, um mit sich selbst zu sprechen und einen inneren Resonanzraum auszubilden. Ich bin überzeugt: Wer liest, liest sich selbst, und ist weniger anfällig für äußere Einflussnahmen, weniger abhängig von der Wahrnehmung durch andere, weniger verführbar für Meinungsmache. Er und sie lernt Sprache anders kennen, der lesende Mensch „entkleidet“ die oft mit Verboten, Grenzen und Tendenzen durchsetzte Alltagssprache, und wird sich nicht mit Phrasen und Prämissen zufriedengeben. Bücher lehren, Mensch zu sein und mit Menschen umzugehen – und mit ihren Unterschiedlichkeiten. Wir sehen ja, dass Büchern in vielen autokratischen, diktatorischen oder auch mehr und mehr amerikanisch-konservativen Ländern oder US-Bundesstaaten etwas zugetraut wird, was so machtvoll sein muss, dass Bücher verboten, verbannt werden, dass Mädchen und Frauen untersagt wird, lesen zu lernen oder gar zu schreiben und zu veröffentlichen.

Man stelle sich für einen Moment vor, wir hätten keine Bücher. Keine Romane, keine Lyrik, keine Sachbücher. Woher sollen wir dann wissen, was uns geschieht, warum wir hier sind, und was das überhaupt alles soll?

Ja, Bücher und überhaupt das geschriebene Wort haben einen höheren Stellenwert, als viele im ersten Moment meinen. In deinem Impulsvortrag wirst du noch mehr auf die (Ohn-)Macht der Wörter eingehen. Ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen, welche Konflikte und Tabus willst du ansprechen? Kannst du ein paar Schlagworte nennen?

Aesopische Sprache in verschiedenen Gesellschaften und was sie über den Stand der Demokratie und Diskursfähigkeit verraten; die Frage: Müssen Bücher oder kulturelle Werke ein Safe Space sein?; die Unterschiedlichkeit kultureller Taburäume in der Literatur Europas. Ich würde gerne um das Berufsprofil der Schriftstellerin kreisen, als Beobachterin, Psychologin, Dramaturgin, Rechercheurin – und als Vermittlerin zwischen Leben, Zeiten, Menschen und Kulturen.

Das ist ein vielseitiges Berufsprofil, das du den Schriftsteller*innen zusprichst. Siehst du damit auch Pflichten verbunden? Und wenn ja, welche?

Die einzige „Pflicht“ für Autoren und Autorinnen ist es, das Leben auf vielfältigste Art bereichernde, schlüssige Geschichten zu schreiben. Wenn ich an Macht und Ohnmacht der Wörter denke, dann denke ich sicher nicht an einen Auftrag von Schriftstellerinnen. Sondern ich sehe diese Macht und Ohnmacht auf drei Ebenen: (1) die Worte des Kriegs und aesopische, also vermeidende, schönfärbende Sprache. Ein Satz wie „Putins Armee ist in die Ukraine einmarschiert und führt Krieg“ ist ohnmächtig, diese Tatsache zu stoppen, aber machtvoll genug, dass sein Schöpfer oder seine Autorin in Russland verhaftet wird, eine Zeitschrift zwangsaufgelöst wird, dass sich Familien über diesen Satz entzweien. Aesopische Sprache – etwa aus „Putin marschiert in die Ukraine ein“ „Putin besucht die Ukraine“ zu machen, um Repressalien zu entgehen – ist jedoch nicht nur in Kriegszeiten ein Phänomen. Auch Politik und Gesellschaft drücken sich oft um wahrhaftige Zuschreibung. Wenn es ums Sterben geht etwa, da wird entschlafen, gegangen, erlöst, in den Himmel geflogen … Solche sprachlichen Verbotszonen machen es oft unmöglich, über Trauer, über Verlust, über Schmerz wahrhaftig zu reden. Die aesopische Sprache schleicht sich oft auch in Gegenwartsliteratur ein, in der Phrasen und Floskeln übernommen werden, gebrauchte Metaphern. Das fällt mir besonders in Genre-Formaten auf, und mich als Leserin enttäuscht das.

(2) Die Macht der Wörter liegt auch im Bereich Meinungsbildung – wie etwa spricht die Politik über Vertriebene? Sie nennt sie, je nach politischem Spektrum, Flüchtlinge, Migranten, Zuwanderer, und vermeidet damit die Herkunft der Flucht, nämlich Gewalt und Krieg, und verschleiert den Anteil, den die europäische Politik daran trägt, dass Menschen aus Diktaturen, aus Kriegsgebieten fliehen müssen. Gleichzeitig verzeichnen wir häufig die Ohnmacht, eine Informationsquelle nicht einschätzen zu können, werden willige Opfer von Desinformation, Fake News und Schlagworten einer Propaganda, ob diese nun einem Unternehmen, einer politischen Gruppe oder anderen Nutznießern dienen. Hier würde ich mir wünschen, dass Kindern und Erwachsenen Instrumente zur Einschätzung von Quellen mitgegeben würden, damit nicht jede halbgare Desinformation so ungefiltert durch die sozialen Medien braust.

Bücher können grundsätzlich dabei helfen, sich ein Deep Reading anzueignen und alternative Begriffe kennenzulernen, als Gegengewicht zur politischen oder zur Nachrichtensprache; Bücher zu lesen, entwickelt kognitive Fähigkeiten, die man wiederum benötigt, um Informationen, auch komplexe, zu erfassen.

(3) Wörter können heilen, darin liegt ihre Macht, und sie können verletzen, darin liegt unsere Ohnmacht. Ich empfinde es als weiße Magie, dass Rhythmik und Poesie von Lyrik nachweisbaren, direkten Einfluss auf das Gehirn, das seelische Befinden haben können, im Gegensatz zur Prosa oder zur Nachricht. Ich empfinde es als Alchemie, dass bestimmte Wörter Appetit oder Alkohollust auslösen (und ich sie kenne!), und ich empfinde es als herrliche Macht, dass Lesen den Körper entspannt und tief in den Hormonhaushalt eingreifen kann. Dass es einen Lese-Flow gibt, in dem man sich der Welt wieder nah und verbunden fühlt, und dass ich als Autorin weiß, wie ich den mit Wörtern und Melodien, Takt und Bildern herstellen kann (oder verderben, das auch). Gleichzeitig gibt es die Verwundbarkeit in uns, dass Szenen, Wörter, Figuren, Landschaftsbeschreibung etwas in uns aufwühlen – Höhenangst, Erinnerung an den Tod eines geliebten Menschen, Aufrühren der eigenen Demütigung, damals, in der Schule, als … Diese sowohl verletzliche als auch begeisterungsfähige Berührbarkeit der Lesenden in jedwede Richtung ist für mich kostbar. Und beinhaltet einen Teil Unerklärliches, Unregulierbares – jedes Buch ist für jeden anders, zwei lesen dasselbe, und doch wirkt es unterschiedlich. Wie mächtig/ohnmächtig ich als Autorin da bin!

Das klingt alles total interessant! Ich bin gespannt auf deinen Vortrag, der sicher sowohl einen guten Einstieg in die Diskussion über „Texte für die Jetztzeit“ als auch in die Tagung insgesamt bietet. Zuletzt wünsche ich mir noch einen Buchtipp von dir: Was empfiehlst du persönlich für die Jetztzeit?

„Die Wut, die bleibt“ von Mareike Fallwickl

„Eine Frage der Chemie“ von Bonnie Garmus, Übersetzung: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

„Wo der Wolf lauert“ von Ayelet Gundar-Goshen, Übersetzung: Ruth Achlama

Danke, liebe Nina, für das aufschlussreiche Gespräch!

Constanze Wirsing, VFLL-Kollegin und Sprecherin der Regionalgruppe Leipzig, führte das Interview

Interview: Constanze Wirsing

Beitragsbild (groß): Foto Helmut Henkensiefken © Nina George
Foto (Porträt): © Constanze Wirsing / privat


Nina Georges Website

Nina George ist u. a. Autorin zahlreicher Romane. Eines ihr bekanntesten Werke ist „Das Lavendelzimmer“, das inzwischen in 37 Sprachen erschien.


Weitere Infos zur Fachtagung Freies Lektorat 2022

Die Fachtagung Freies Lektorat findet vom Freitag, 16. September bis Sonntag, 18. September 2022 in Halle statt. Die Anmeldung zur Fachtagung ist ab sofort online möglich. Anmeldeschluss ist der 14. August 2022.

Zum Programm Fachtagung Freies Lektorat 2022 in Halle


Constanze Wirsings Website


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