Wer den VFLL-Blog regelmäßig liest, weiß, dass Georg-D. Schaaf (Regionalgruppe Rhein/Ruhr) sich im Kulturbetrieb engagiert und bereits die eine und andere Lesung mitorganisiert hat. Im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2024 gab es nun eine Premiere für ihn, als er Gedichte der griechischen Autorin Tsabika Hatzinikola aus dem von ihm übersetzten Lyrikband vorstellte. Im Interview erzählt Georg, auf welche Herausforderungen er bei den Übersetzungen stieß und was ihm besondere Freude bereitete.
Um was für ein Werk handelt es sich?
„Fingerspitzen/Ακροδάχτυλα“ ist die deutsche Erstübersetzung von Gedichten der griechischen Autorin Tsabika Hatzinikola.
Bei dem Buch handelt es sich um die zweisprachige Edition. Das Original ist 2018 in Athen bei Polis Editions erschienen. Seit Ende Februar 2024 liegt diese Sammlung erstmals auch von mir übersetzt in deutscher Sprache vor.
Insgesamt sind es 44 Gedichte, in freier Form geschrieben, verteilt auf die Kapitel „Illusionen“, „Körper“ und „Welt“. Tsabika Hatzinikola schreibt in knapper Diktion mit präzisen Bildern. Gedichte entstehen bei ihr aus dem Moment heraus. Sie beziehen sich auf Erlebnisse, die sie berührt oder sogar verletzt haben, bleiben aber nicht an ihrer Person haften – im Gegenteil: Für sie ist eine zentrale Eigenschaft von Gedichten die Fähigkeit, Lesende direkt mit sich selbst zu konfrontieren „ohne Raum für Analyse, nur im Hier und Jetzt“, wie sie 2018 in einem Interview sagte.
Wie warst du daran beteiligt?
Ich habe die Originalausgabe von 2018 vollständig übersetzt. Die Aufnahme in das TOLEDO-Programm „ViceVersa: Deutsch-Griechische Werkstatt ONLINE“ am Europäischen Übersetzer-Kollegium Straelen Anfang 2021 gab dafür einen starken Impuls.
Vier weitere Personen mit außerordentlichem Sprachgefühl waren auf unterschiedliche Weise für die praktische Arbeit an jedem einzelnen Gedicht besonders wichtig. Ich nenne hier nur zwei: Für alle formalsprachlichen Aspekte konnte ich jederzeit eine Person mit sehr tiefer Kenntnis der griechischen Grammatik und Lexik fragen und für lyrische Sprache im Deutschen eine andere, diese ganz ohne Griechischkenntnisse; beide niemals müde vom Lesen. Unabhängig voneinander haben sie sich an unterschiedlichen Orten, in ihrem jeweiligen Wissen und Sprachgefühl auf wunderbare Weise immer wieder gegenseitig ergänzt und bestätigt.
Überaus hilfreich waren auch die Gespräche mit einer Bremer Künstlerin über Interpretationsfragen zu einzelnen Gedichten. Ich hatte sie mit einer Radierung zu einem der Gedichte beauftragt. Besonders freut mich, dass daraus eine Serie aus insgesamt zwölf eindringlichen Radierungen geworden ist, zu der eine Ausstellung in Vorbereitung ist.
Wie bist du zu dem Werk gekommen?
Intensiv mit moderner Lyrik beschäftige ich mich erst seit 2016. Den Auftakt hatte eine vom VFLL unterstützte zweisprachige Lesung für den saudisch-palästinensischen Autor Ashraf Fayadh gemacht.
Das Übersetzen von Lyrik hat 2017 begonnen, als wir, mein syrischer Lesepartner Abdo Abboud und ich, erstmals eine griechische Lesung planten und uns zu einigen Gedichten deutsche Fassungen fehlten. Auch die Autorin Tsabika Hatzinikola hatte zu dem Anlass etwas beigesteuert.
Als 2018 ihr erster Gedichtband „Ακροδάχτυλα“ erschien, schickte Tsabika mir das Buch – und da war es dann eigentlich schnell klar, dass ich eine Übersetzung versuchen wollte.
Ich kenne die Autorin seit meinem Studienjahr 1994/95 an der griechischen Universität Ioannina. Der Fachbereich Klassische Archäologie war eine unserer Schnittmengen. Auch mit anderen Leuten aus unserer Clique in jener Zeit stehe ich heute noch in regelmäßigem Austausch, über Brief, E-Mail, Social Media – nur leider sehen wir uns viel zu selten.
Für Tsabika war Lyrik damals schon ein großes Thema, über das sie wie keine andere im Freundeskreis reden konnte. Sie lebt auf Rhodos und arbeitet als Lehrerin und Reiseleiterin.
Hast du in einem Verlag publiziert oder per Selfpublishing?
Das Buch ist im Leipziger „Fachverlag für Horizonterweiterung“, einem Independent-Verlag mit dem genialen Namen „Reinecke & Voß“ erschienen – als Teil der neugriechischen Reihe „edition metáfrasi“. Fachlich betreut wurde es von dem Gräzisten Dirk Uwe Hansen.
War es schwierig, einen Verlag zu finden?
„Reinecke & Voß“ ist mir empfohlen worden. Da mir kein zweiter Verlag in Deutschland bekannt ist, der einen Schwerpunkt in moderner griechischer Lyrik hat und diese zweisprachig herausgibt, war die weitere Suche überflüssig. Es mussten den Betreuer der Reihe nur noch das Textmaterial und die Übersetzung überzeugen. Ihm bin ich sehr dankbar für alles, was er möglich gemacht hat und macht.
Wie lange hast du an der Übersetzung gearbeitet?
Sehr lange, mit zwei großen Unterbrechungen. Insgesamt dauerte es bis zum Erscheinen etwas mehr als vier Jahre.
Gab es spezielle Herausforderungen?
Etliches ließ sich relativ nah am Original übersetzen. Dennoch gab es – nicht verwunderlich – genügend knifflige Fälle, die nicht mehr oder weniger eins zu eins zu übertragen waren. Nur ein Beispiel, das ich auch in der AG Sprachwandel vorgestellt habe – ein großer Dank dorthin! –, ist die griechische Verbbildung in der 3. Person Singular: Eine ergänzende Subjektbezeichnung mit Pronomen oder Substantiv ist nicht nötig, nicht einmal selbstverständlich. In einem ihrer Gedichte verrät die Autorin mit keinem Wort das Geschlecht des Subjekts. Für die Übersetzung habe ich mich für eine weibliche Person entschieden, entsprechend dem lyrischen Ich der Autorin. Aber auch jede andere Entscheidung wäre zulässig:
Εκείνο το βράδυ / αναρωτήθηκε πολλές φορές / τι θα μπορούσε να ‚ναι / πιο βαρύ κι αδιέξοδο / απ‘ την απελπισμένη μοναξιά του σαλτιμπάγκου, / όταν τα φώτα της πλατείας σβήσουν. / Και μόλις τότε ήταν που κατάλαβε / πως πιότερο βάρος είναι να κοιτά / το φως χωρίς καμιά ελπίδα, / αφού ο έρωτας την έχει πλέον άσκοπα ξοδέψει.
An jenem Abend / fragte sie sich viele Male / was schwerer und auswegloser / sein könnte / als die verzweifelte Einsamkeit des Gauklers, / wenn die Lichter auf dem Platz verlöschen. / Plötzlich wurde ihr klar, / wie viel unerträglicher es ist, / das Licht zu sehen ohne jede Hoffnung, / da die Liebe sie sinnlos aufgezehrt hat.
In einer exakten Übersetzung würde dem Griechischen entsprechen – und wäre zudem elegant gendersensibel –, wenn man die Personalpronomen „sie“ und „ihr“ wegließe. Der Preis dafür wäre aber ein erhebliches Störgefühl beim Lesen, für das es im Original nicht den geringsten Anlass gibt.
Was hat besonders Freude gemacht?
Ich mag sehr die klare, sichere Sprache der Autorin, die Bilder und die Farben. Zwar kann beim ersten Lesen die traurige, düstere Stimmung mancher Gedichte sehr verstören. Und nicht immer hat man gleich Bilder, um mit dem Gesagten irgendwie vertraut zu werden. Aber die Sprache selbst oder Gespräche mit anderen über die Gedichte fangen das früher oder später auf, denke ich.
Ach ja, unter allen Gedichten macht mir besonders dieses hier Freude:
Es bemerkte der Dichter / voller Schrecken, / dass es nicht die Stadt war, die abhanden gekommen war; / er selbst war es, / mitten auf dunklen Straßen des Verstandes / und seiner ungeklärten Gegenwart.
Wie fühlt es sich an, das Werk nun in den Händen zu halten?
Super! Ein wenig wie Oskar bzw. Bolle. Jede Phase dieses Projekts fühlt sich im Rückblick so an, als wäre alles genau richtig gelaufen. Wenn’s mit den Lesungen ebenso geht, wäre es schön.
Gibt es noch etwas, das du uns dazu sagen möchtest?
Hoffentlich benötige ich für die Übersetzung des zweiten Gedichtbandes von Tsabika nicht noch einmal so lange.
Interview: Katja Rosenbohm
Covergestaltung: Charlotte Hintzmann
Beitragsbild: Lesung in der Lyrikbuchhandlung 2024, Leipzig, (c) privat
Tsabika Hatzinikola, Fingerspitzen/Ακροδάχτυλα. Gedichte, zweisprachige Ausgabe, übersetzt von Georg-D. Schaaf, 100 Seiten, 14 Euro, ISBN 9783942901505.
Das Buch ist bei Reinecke & Voß bestellbar unter info@reinecke-voss.de.
Weitere Links:
Interview mit Tsabika Hatzinikola (2018) im Original ohne Übersetzung
Beitrag zur Lesung für den Autor Ashraf Fayadh (2016)
Georg-D. Schaafs Website und Profil im VFLL-Lektoratsverzeichnis
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